Lille - Milan Unverhofft bekam ich am Dienstag die Meldung: Karten für Lille - Milan bekommen. Abfahrt um 15:30 Uhr in Overijse (östlicher Vorort von Brüssel). "Aha, ok, also nichts für mich, da ich niemals von Anderlecht aus um diese Uhrzeit dort sein kann. Arbeit halt bis 17:00Uhr!" Die Sucht war natürlich grösser und so schlich ich mich gegen 15:15 Uhr aus der Firma und gab den Jungs eine Raststätte auf dem Weg nach Frankreich als Treffpunkt. Punkt 15:50 Uhr sollten sie da sein. 16:00 Uhr meine SMS: "Stau?" Antwort: "Sind in 20 Minuten da" Dabei sah die 0 bei der 20 su klein aus, dass es auch ein Punkt hätte sein können. Also entweder in 2 oder 20 Minuten. Einfach warten. Halbe Stunde später wusste ich was gemeint war, denn sie waren immer noch nicht da. Doch dann fast pünktlich um 17:00 Uhr ging es endlich in den Stau gen Lens. Dort angekommen parkten wir irgendwo in der Stadt und folgten dem Menschenstrom. Und dann erblickten wir auch schon die Flutlichtmasten und kehrten in ein Bistro ein, um uns ein wenig für die Reststrecke zu stärken. Im Bistro hingen überall Fahnen und Schals vom RS Lens. Die ganzen LOSC-Anhänger schienen sich daran nicht zu stören. Man stelle sich mal vor: Essen spielt in der CL und müsste ins Westfalenstadion ausweichen. Die RWE-Fans stünden in den Kneipen der Gelb-Schwarzen. Ich glaube, das würde bei uns nicht gut ausgehen. Doch dort war zum Glück alles friedlich. Abmarsch zum Stadion. Dort versuchten wir den Gästeeingang zu finden. Laut Ordner mussten wir immer gerade aus. Ok, dem Stadionweg folgen. Fast ganz rum, sah ich einen Hügel mit einer Mauer und Stacheldraht drum rum. Von dort aus führte eine kleine Brücke zu einem schmalen Eingang zum Stadion. Das musste es sein. Gastfreundlich wie moderne Stadien nun mal sind. Wir also rein in den abgesperrten Parkplatz und die Guerreiro Ultras gesucht und gefunden. Die hatten aus Milan unsere Karten mitgebracht. Mit Andrea, dem Capo und den ca. 40 anderen Guerreiri ins Stadion. Durchsuchung vom Feinsten. Nichts blieb unberührt, doch leider brachte es mir nichts, mich in die Schlange für Mädels anzustellen. So what, die Bullen ein wenig doof angemacht, ein paar Scherze abgelassen, ihnen ihre Idiotie vor Augen gehalten und endlich ab in den Käfig. Aus Milan waren leider nur ca. 200 Ultras gekommen. Hauptsächlich die bereits erwähnten Guerreiri, dessen Freundschaft uns gewiss war, da ein guter Kumpel ein Jahr lang mit ihnen quer durch Europa gezogen war. Und auf der anderen Seite die Brigade, welche die Spieler mit faschistischen Grüssen empfing. (Der römische Gruss [hierzulande eher als Hitler-Gruss bekannt] wird in Italien nicht unbedingt mit den Scheusalen des dritten Weltkriegs in Verbindung gesetzt. Daher sollte man darüber nicht zu sehr verwundert sein.) Der Block füllte sich langsam mit Itackern (Anmerk. D. Red.: ich benutze hier diesen Ausdruck, um den Unterschied zwischen "echten" Milanisti und Auswanderkindern zu verdeutlichen.), die es insgesamt auf etwa 1200 schafften. Diese kamen aus Belgien oder Frankreich. Während sich die 34 Millionäre auf dem Platz langsam warm machten, zog ich doch tatsächlich nach Jahren mal wieder an einem Joint. Die Tifosi sind eher Kiffer, denn Säufer. Umso besser, denn schliesslich habe ich meine Woche ohne Alk und das eine Bier im Bistro war schon mehr als genug. Als ich dann schön benebelt das bunte Treiben auf den Rängen beobachtete, sah ich aus dem linken Blickwinkel ein Geschoss auf mich zufliegen. In guter alter Gerhard Heinze-Manier riss ich meine Fäuste hoch und konnte so den Angriff abwehren. Der Ball flog runter zu einigen Kids, die den Ball hinterher jagten, doch ohne vorher mit den Brigadisti gerechnet zu haben. Diese krallten sich den Ball und wollten ihn nicht wieder hergeben. Dann kam ein grosser Itacker und forderte den Ball zurück. Dort kam es dann fast zum ersten Eklat zwischen Milanisti und Itackern. Die Szene konnte aber schnell geklärt werden, in dem die ersten Fäuste klar machten, wer hier das Sagen hat. Zum Anstoss wollten die Itacker dann gleich lautstark ein Lied anstimmen, das z.Z. in belgischen Stadien sehr populär ist, welches aber in Italien eher zum Ende eines Spiels gesungen wird, wenn der Sieg bereits sicher schien. Das brachte ihnen die Pfiffe der Ultras ein und wir stimmten "Per que Milan é forte" an. Die zwei Capos versuchten zu Beginn des Spiels einen geordneten Support hinzulegen. Doch die Lage war aussichtslos. Viele Itacker kannten die teils komplexen Lieder nicht oder konnten überhaupt kein Italienisch und beschränkten sich auf 'Milan Milan' Rufe. Die Ultras verzweifelten und die Stimmung ging immer weiter den Bach runter. Zumal auch das Spiel nicht berauschend war und wir den Eindruck hatten, Milan würde hier von Lille noch vorgeführt zu werden. Allein was Seedorf bot war unterste Schublade. Sogar Nesta erlaubte sich Schnitzer, die man wahrlich nicht von ihm gewohnt ist. Später hörte ich im Radio, Milan sei die spielbestimmende Mannschaft gewesen. Komisch, denn 41.500 Zuschauer waren da wohl anderer Meinung. Naja, so ist er halt unser moderner Fussball: Meinung, Stimmung und Resultat herrschen in den Katakomben der Stadien. Dort wird beschlossen, was man der Aussenwelt vermitteln möchte. So war auch von guter Stimmung seitens Lille die Rede. Sorry, aber so etwas lächerliches wie in Lens habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Eine Moderatorin erklärte den Fans von Lille vor dem Spiel, was sie zu tun hätten: "Kurz vor Anpfiff verlese ich die Aufstellungen. Ich sage den Vornamen und ihr ruft den Nachnamen. Um zu sehen, ob ihr richtig gelegen habt, sage ich dann nochmal den richtigen Nachnamen". Weitere Kostprobe: "Wir werden jetzt unser Vereinslied singen. Ihr kennt es bestimmt, doch sicherheitshalber habt ihr vor den Toren Zettel mit dem Text bekommen. Also bei 10 singen wir los. 1, 2, 3…" "Ok, das war ja schon ganz gut. Versuchen wir es doch nochmal…" Als Fan von Lille hätte ich die Tussie erschossen oder ich hätte mich vor lauter Scham selber erhängt. Tja, sowas ist scheinbar CL in Frankreich. Nur zum Kotzen. Es war wahrlich ein grausiger Abend. Hätte ich nicht ein wenig Bekanntschaft mit dem ein oder anderen Guerreiro gemacht, hätte ich sicherlich vor Wut doch noch ein Bier getrunken. Doch so überstand ich den ersten Fussball-Abend gänzlich fast ohne Bier! *stolzbin* Ich muss wohl nicht erwähnen, dass uns die Freunde in Schwarz (Französisches Equivalent zu Grün) noch eine ganze halbe Stunde im Block haben schmoren lassen. Wir hätten ja böse werden können. Danach noch zwanzig Minutem auf dem Parkplatz festgehalten. Dann durften wir uns zum Auto und von dort in den Stau wagen. Prima Organisation. Danke Lens für nichts! Das Highlight an diesem Abend gebührte aber zweifelsohne zwei jungen 'Tifosi', die sich mit Italientrikots von Totti und Del Pierro in den Block von Milan gewagt haben. Sehr mutig!
Zwei gravierende Fehler in deinem Bericht. 1. Die Brigate haben die Spieler nicht mit dem römischen Gruss begrüsst sondern mit drei Fingern und gestrecktem Arm. Brigate sind offiziell apolitisch, inoffiziell demokratisch, moderat rechts. 2. Der Song den die Itacker gesungen haben ist von den White Stripes (Seven Nation Army) und ist seit der WM, auch von den Medien, zum Azzurri-Lied erklärt worden. Bisher wurde er schon in verschiedenen Stadien gesungen aber auch bei Konzerten, Partys. Ist halt so ein Ohrwurm. Falls du irgendwelche Fragen zur italienischen Fanszene, Fangesänge oder Ultrasszene hast, wende dich bitte an mich oder FC
vielleicht für kiffende fußballfans denen das ergebnis egal ist in dem bericht steht ja gar nicht, wie das spiel ausgegangen ist...oder habe ich das übersehen, dann sorry!
Finde bei solchen Berichten ist das Ergebnis mal nicht so wichtig. Dieses kann man doch im Videotext nachgucken. Finde ihn schön geschrieben.
Kann im Laufe des letzten Servercrash' flöten gegangen sein. Aber danke für deine obigen Ausführungen. @Rest, wer Fragen zum Thema oder italienische Fanszene im generellen hat, sollte diese an cucscucs wenden. Der blickt da noch halbwegs durch!
