Ich habe mir gestern die letzten vier Ligaspiele in Ausschnitten nochmal angeschaut und dabei speziell auf die Positionierung/Bewegungen im geordneten/kontrollierten Spielaufbau geachtet. Grund war, ich wollte etwas lernen und ich wollte die Unterschiede, von denen Lieberknecht in der
PK nach dem Spiel sprach, entdecken und prüfen, ob da eine Korrelation zu den Ergebnissen besteht.
Im Lautern-Spiel wurden tatsächlich Änderungen durchgeführt. Während man in den Spielen davor meist im 2-3(eng)-3(breit)-2 aufbaute (AV kippen in die Halbräume, ein Sechser geht hoch, die Außen geben maximale Breite, Zehner geht in die letzte Linie neben dem Stürmer) wurde am Freitag eher eine 3-3(breit)-1-3(breit)-Struktur gebildet (Sechser kippt ab, AV gehen breit, die offensive Außen ebenfalls maximal breit auf Höhe des Stürmers). Ob das jetzt eine Anpassung an Lautern oder die Ergebniskrise war, vermag ich nicht zu beurteilen. Da könnte man vielleicht spekulieren, wäre aber dünnes Eis (wo ist eigentlich Philipp Klug wenn man ihn mal braucht

).
Ich muss zugeben, dass mich die doppelte Flügelbesetzung am Freitag im Stadion eher verwirrte (da ich ja auch hier im Forum kritisiert hatte, dass wir die offensiven Halbräume nicht mehr so gut finden), aber die doppelte breite Positionerung diente nur dazu, den Gegner zu binden/locken und um dessen Formation aufzulockern. Man wollte
NICHT in der Breite spielen. Im Gegenteil. Das Ziel waren wieder die Halbräume. Man öffnete sie durch die breite Positionierung nur besser. Wenn der Ball wirklich mal ganz breit war, ging es sofort wieder ins Zentrum, niemals linear die Linie hoch. Das ist grundsätzlich gut, weil linear die Linie hoch, leicht ausrechen- und pressbar ist. Die Halbräume sind hingegen der ideale Nährboden für kreatives und flexibles Spiel (was z.B. in Velbert offensichtlich fehlte, aber diese Spiel möchte ich sowieso ausblenden).
Als erstes finde ich es nach wie vor beeindruckend, wir konsequent Lieberknecht Ballbesitzfussball und Positionsspiel betreibt. Mir fallen in den ersten drei Ligen in Deutschland nicht viele Mannschaften ein, die das so bewusst und geplant machen. Wenn Lieberknecht etwas von Spielidee faselt, ist das tatächlich keine Floskel, sondern schlicht die Realität. Seitdem ich mich für Taktik interessieren, ist das auch der erste MSV-Trainer der das so zielorientiert macht. Natürlich ist Ballbesitzfussball und Positionsspiel keine Garantie für Erfolg, sonst würde es schlicht alle anderen Teams auch so machen. Im Gegenteil sind seit einigen Jahren reaktive Spielphilosophien (leider auch im Jugenfussball und leider auch beim MSV), die sich stark auf die Arbeit gegen den Ball und den Umschaltmoment fokussieren, en vogue und Ballbesitzfussball laut dem Boulevard auch "out".
Gerade deswegen finde ich es umso beeindruckender, dass Lieberknecht trotzdem den anderen Weg geht. Dieser Weg (also das weiträumige Besetzen des Spielfeldes, das geduldige Aufbauspiel und die bevorzugte spielerische Lösung per Flachpass) bildet nämlich unglücklicherweise die ideale Grundlage für die Spielidee alle Pressing- und Umschaltteams. Um mit reaktivem Fussball erfolgreich zu sein, braucht es schlicht einen Gegner wie den MSV, der sagt: Ok, ich will den Ball haben und Fussball spielen. Das birgt für Lieberknecht und den MSV natürlich ein großes Risiko, weil man so sehr anfällig für Konter- und Umschaltfussball ist. Nicht selten muss man hinten große Räume mit wenigen Spielern verteidigen, kommt nicht ins Doppeln oder kann eine mannschaftliche Kompaktheit bilden. Genau das mussten wir ja irgendwie auch letzte Saison am eigenen Leib erfahren, als wir abstiegen und hinten eigentlich nur stabil waren, wenn wir selbst nicht spielten.
Aber - und das wird oft vergessen - alles was wir an Spielstärke und Dynamik in der gegnerischen Hälfte derzeit aus dem eigenen Ballbesitz auf den Platz bringen, wird durch unsere Spielidee vorbereitet und gehört unabdingbar zusammen. Das weiträumige Besetzen des Spielfelds ist nämlich nur das Fundament aus dem wir Torgefahr erzeugen. Das wirkliche Beeindruckende ist dann wie die geöffneten Räume bespielt werden, wie die Spieler rochieren, Verbindungen zueinander bilden und einhalten um One-Toch-Lösungen zu finden, wie man durch gut abgestimmtes Movement Räume frei- und Gegenspieler wegzieht, wie man versucht situativ Überzahlen zu erzeugen, hinter die Kette zu kommen und in offene Spielstellungen zu gelangen. All das, was uns an Stoppel, Mickels, Daschner, Vermej, Albutat, Bitter und Co derzeit begeistert, wird durch diese Spielidee ermöglicht. Wenn man diese Spieler in ein "Standard"-4-2-3-1 packt, würden sie lange nicht so glänzen können. Das hat man dann ja auch gut in Velbert oder in den beiden zweiten Halbzeit gegen Meppen und Chemnitz gesehen, als wir unsere Mannschaft kaum wiedererkannten.
Was mir beim Schauen der beiden Spiele in Chemnitz und gegen Meppen noch aufgefallen ist: Die Spiele waren (vor allem zu Beginn) gar nicht so verkehrt wie wir es im Nachhinein aufgrund der Ergebnisses empfunden haben. Wir waren in beiden Spielen dominant und hatten auch im Positionsspiel saubere Lösungen. Selbst gegen den Ball habe ich nicht viel an Intensität und Diziplin vermisst. Dass wir die Spiele am Ende doch verloren haben, zeigt wie anfällig Lieberknechts Spielidee für
- individuelle Fehler (teils durch Unerfahrenheit, nicht durch fehlende Klasse)
- Intensitätsverlust im Gegenpressing und defensiven Umschalten
- Verfallen in einen spielerischen Trott/angelernte Routinen
- fehlende (geistige und körperliche) Frische
ist.
Aber: Wir
ERSPIELEN uns unsere Tore. Immer wieder. Wir brauchen keine Zufälle, Glück, Standards oder Fehler des Gegner, die wir uns erpressen und erkämpfen müssen. Wir sind auf solche Dinge nicht angewiesen. Wir müssen nicht darauf hoffen, dass der Bock umgestoßen oder das Glück erzwungen wird. Wir erzeugen immer wieder aus unserem Ballbesitzspiel Torgefahr. Wir sind stark genug jeden Gegner in dieser Liga zu bespielen und gegen jeden Gegner zu Torchancen zu kommen. Für mich ist das ein Pfund, dass so schwer wiegt, dass mich alles andere als der Aufstieg stark wundern würde. Ich kann nur hoffen, dass nicht Außerplanmässiges dieses Ziel torpediert oder Dinge abseits des Platzes ein Keil zwischen Mannschaft und Trainer treiben. Ich würde mich sehr freuen, wenn Lieberknechts Mut belohnt wird und man bei ausbleibenden Ergebnissen nicht zu Zweifeln beginnt und Unruhe aufkommt. Diese Spielidee ist attraktiv. Sie hat Perspektive. Sie entwickelt Spieler. Sie fördert Spieler. Sie birgt trotz allens Risikos für eine gewisse Planbarkeit und Konstanz, auch bei einem etwaigen Aufstieg in Liga 2
