Die Stille nach dem Schuß, oder: Keine Lust auf Vorwürfe
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielleicht bin ich einfach zu romantisch veranlagt, vielleicht bricht in solchen Situationen auch nur ein diffuser Mutter-Instinkt in mir aus, was damit zusammenhängen mag, dass meine Eltern sich intuitiv statt meiner ein Mädchen gewünscht hatten, ich kann da nur spekulieren. Aber gleichgültig auf welcher bizarren psychischen Nervenkonstellation das alles auch immer beruhen mag: Als Michael Gardawski in der letzten Sekunde des Spiels eine 100%-ige versemmelte, diese Mannschaft sich dadurch und durch zwei weitere Patzer um ihren verdienten Lohn brachte, als der Schiedsrichter den Ball in die Hand nahm, das Spiel abpfiff und der ganze Kader enttäuscht auf dem Boden zusammensackte, wollte ich nur noch aufs Feld rennen und jeden einzelnen dieser Kerle wieder hochziehen und ihnen sagen, dass sie heute ganz viel richtig gemacht haben und den Kopf wieder hochnehmen sollen, so leid taten mir diese Jungs. Und wie Mütter nun mal so sind, reagiere auch ich gerade vollkommen überzogen, unfair und allergisch, wenn ich höre, wie fluchende und keifende Menschen an mir vorbeiziehen und lautstark diese „Gurkentruppe“ verurteilen, die „typisch MSV“ aus „einem Haufen nichtsnutziger Dilettanten“ besteht, die es „nicht wert sind dieses Trikot zu tragen“ und „am nächstbesten Baum aufgehängt gehören, aber brennend!“ Keine Sorge, ich kenne all diese Sätze, bis vor ein paar Wochen habe ich sie selber noch alle geäußert. Und dennoch: Mit dieser Mannschaft ist etwas passiert und das kann ich leider nicht einfach ignorieren.
Ich will gar nicht das Spiel rekapitulieren, hier sind Leute unterwegs, die viel mehr Ahnung von diesem Spiel haben als ich (Schimanski etc.) und die das alles viel besser auf den Punkt bringen können. Für mich hat diese Mannschaft gestern zwei Fehler gemacht, die umgehend bestraft wurden, was für mich übrigens nur ein Beweis dafür ist, dass der Fußballgott anscheinend auf einer extrem lustigen Strecke unterwegs war, denn eine derartige Bestrafungs-Effizienz ist in der dritten Liga ja auch nicht alltäglich. Den einen Fehler machen sie, als sie beim 1:1 dem Gegenspieler solange Geleitschutz geben, bis dieser zentral und aus halbwegs aussichtsreicher Position zum Abschluss kommen kann, den anderen, als sie beim 2:2 mit mehreren Leuten vogelwild durch den eigenen Strafraum irren und nicht ordentlich miteinander kommunizieren. Das war es aber dann auch. Ansonsten haben sie hinten den Laden zusammengehalten, im Mittelfeld einen Großteil der Zweikämpfe gewonnen, haben sich Chancen erarbeitet, zwischendrin Fußballstaffetten über mehrere Stationen mit nur jeweils einem Kontakt gespielt, haben Willen gezeigt, alles rausgehauen und in die Waagschale geworfen, und wäre Fußball ein faires Spiel, dann wäre die Messe irgendwann auch gelesen gewesen und Karsten-Ich-unterschreibe-nie-wieder-einen-Vertrag-bei-einem Ost-Verein-Baumann (Originalzitat) ohne Punkte nach Hause gefahren. Nur leider ist Fußball kein faires Spiel und weil der Stachel anscheinend noch nicht tief genug saß, gab es noch diese letzte Szene, die einem dann auch noch den letzten Nerv raubte. Aber deswegen im Tal der Tränen versinken? Spiele und Szenen wie gestern sind im Fußball normal und kommen vor, der Weltmeister Frank Mill hat mal anstatt das leere Tor nur den Pfosten getroffen, der deutsche Meister Mario Gomez aus einem Meter den Ball übers Tor gehauen, die Weltmeister-Elf innerhalb von zwanzig Minuten ein 4:0 gegen Schweden verspielt. Wer jetzt also Gardawski verurteilt und ihn an den Pranger stellt, der müsste in aller Konsequenz im Laufe einer Spielzeit drei Viertel des Kaders standrechtlich erschießen lassen und wie gesagt: Bis vor einigen Wochen hätte ich noch lächelnd das Zielfernrohr herübergereicht und darum gebeten, mir wenigstens Grote persönlich vorknöpfen zu dürfen. Ja, es tat weh, wie Gardawski den Ball nicht im Tor unterbrachte, aber vor einigen Wochen wären sie nach einem derartigen Spielverlauf noch gar nicht in der Lage gewesen, sich eine derartige Chance in der letzten Minute zu erarbeiten. Auch in dieser Hinsicht haben sie einen Schritt nach vorne gemacht.
Für mich ist es eine Frage der Perspektive und als nach dem Spiel jemand zu mir sagte, dass das wahrscheinlich die zwei Punkte waren, die uns den Aufstieg kosten würden – ganz, ganz schlimm und so -, nickte ich zwar erst debil-depressiv, muss aber mittlerweile dennoch protestieren. Denn sollten sie weiterhin so auftreten, dann haben sie den Aufstieg nicht gestern verspielt, sondern weil sie zu spät in der Saison den Schalter umgelegt haben und viel zu selten so wie gestern auftraten. Aber seit Dortmund sind sie was ihre Körpersprache, ihre Ansprache an die Fans und ihre Galligkeit angeht, endlich auf der Strecke unterwegs, die ich mir schon viel früher gewünscht hätte und meines Erachtens nach hängt das vor allem mit Martin Dausch zusammen, der dieses Team anzündet und vorneweg marschiert, der überall auf dem Feld auftaucht, giftig und gallig wie nix ist und damit das perfekte Gegenbild zu anderen Spielern, die lieber nach dem Haching-Spiel plärrend vor der Handy-Cam der Revier-Sport auftauchen oder ihre Energien anderweitig verschwenden. Und damit schließt sich für mich der Kreis, denn jeder auf wie neben dem Feld kann sich jetzt entscheiden, welche Perspektive er für den Rest der Saison einnehmen möchte. Ich werde einen Teufel tun und behaupten, dass ich mit meiner Wahl Recht hätte, aber ich für mich habe irgendwann entschieden, dass ich umgehend auf den Zug aufspringen werde, wenn der Kader in Vorleistung tritt und mir zeigt, dass er gewillt ist, die Herausforderung anzunehmen. Das haben sie getan. Und während der ein oder andere jetzt wahrscheinlich schon überlegt, wie er diese Woche Thorsten Richter erreichen kann, um ihm zu erzählen, wie „typisch MSV“ das alles wieder sei, habe ich viel mehr Lust darauf mit Martin Dausch und seiner bewundernswert-pornösen Karre metaphorisch über die Autobahnen dieser Republik zu rauschen, den Schädel in den Fahrtwind zu halten und mir das Adrenalin direkt in die Vene zu jagen, denn das hatte ich viel zu lange nicht mehr.
Bevor man mich falsch versteht: Ich kann jeglichen Missmut verstehen und diese Fans haben viel zu viel geleistet, als dass man irgendwen für irgendwas verurteilen könnte. Aber dieser Verein wird dieses oder nächstes Jahr aufsteigen müssen, und es hat angesichts dessen überhaupt keinen Sinn, seine Energie mit Lamentieren zu verschwenden. Und keine Sorge, die Konkurrenten werden Punkte liegen lassen, sie spielen teilweise noch gegeneinander und die Kieler werden hier auch noch antanzen müssen, im Endeffekt ist gestern nicht viel passiert. Aber wenn die Jungs auf dem Feld so weitermachen wie in den letzten paar Wochen, dieses Level beibehalten und das Gaspedal weiterhin durchdrücken, dann besteht eine realistische Chance, dass am letzten Spieltag in Wiesbaden etwas extrem Nervenaufreibendes passieren könnte. Und alleine die Vorstellung, wie man nach dem Schlusspfiff über die Absperrung zum Feld springt, sich spurtend und wild kreischend all seiner Kleider entledigt, nur noch wild spastisch die Arme durch die Luft wirft und sich komplett der Lächerlichkeit preisgibt, jagt mir hier einen Schauer nach dem anderen über den Rücken.
Also: Kopf hoch. Und dann weiter. Dieser Verein hat sich einen solchen Trip einfach verdient.
Besten Gruß aus Neudorf
Micha