Ich möchte mal die Winterpause nutzten und eine Lanze für Gruev und seinen taktischen Ansatz brechen.
Gruev hat vor Beginn der Saison viel davon gesprochen, dass er auf Ballbesitz spielen möchte und auch hier im Forum wurde diesen Thema immer mal wieder angeschnitten. Eine Ballbesitzmannschaft wie es der FC Barcelona oder die deutsche Nationalmannschaft unter Löw seit etwa 2012 ist oder Bayern unter Pep war, ist der MSV natürlich nicht geworden. Erkennbar ist das z.B. beim ersten Anspiel durch Flekken. Wenn der Gegner die ersten Anspielstationen zustellt oder nach dem ersten Anspiel hoch presst, wird das flache Anspiel aus Angst vor Ballverlusten in tornahen Zonen nicht riskiert, sondern der Ball lang geschlagen.
Das ist untypisch für eine reine Ballbesitzmannschaft. Die Wahrscheinlichkeit nach einem lange Abschlag in Ballbesitz zu bleiben, liegt theoretisch in erster Annäherung bei unter 50% (aufgrund des schlechteren Sichtfeldes im Vergleich zur verteidigenden Mannschaft), hängt aber natürlich auch von der Staffelung (in Bezug auf das Einsammeln der zweiten Bälle) und der individuellen Qualität (Kopfballstärke, Ballannahme hoher Bälle) ab und kann so in der Praxis auch über 50% liegen. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit, bei einem flachen Anspiel in Ballbesitz zu bleiben, natürlich ungleich höher und liegt bei nahezu 100% und wird von reinen Ballbesitzmannschaften deswegen generell konsequent umgesetzt. Diese Dogma gibt es beim MSV unter Gruev nicht.
Trotzdem gibt es viele Ansätze unter Gruev zu sehen, die vergleichbar mit der Spielauffassung von Ballbesitzmannschaften sind.
Zum einen natürlich das Verhalten bei Ballgewinnen, also der offensive Umschaltmoment. Hier wird nicht zwingend sofort vertikal und riskant der Weg Richtung Tor gesucht, sondern der Ball auch mal hinten rum gespielt, um den Ballbesitz zu erhalten. Diese Phase nutzt man dann im Idealfall, um passende Strukturen für Ballbesitzspiel zu schaffen, also die mannschaftlichen Kompaktheit und/oder Manndeckungen aufzulösen und das Spielfeld weiträumiger zu besetzten und/oder sich von den Gegenspieler zu lösen. Ein vergleichbares Verhalten erkennt man auch immer wieder, wenn sich Angriffszüge in der Kompaktheit des Gegner verlaufen und die Aussicht, zum Tor durchzubrechen, immer unwahrscheinlicher wird. Auch hier wird oft abgebrochen und hinten rum gespielt, um den Moment für das Vertikalspiel erneut kollektiv vorzubereiten.
Weitere Merkmale von Ballbesitzmannschaften sind das konstante Bespielen des Sechser- und Zehnerraums und der offensiven Halbräume über Kurzpass und die Reduktion des Flügel- und Flankenspiels, wo die Aussicht auf Torerfolg statistisch relativ gering ist, aber gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit eines Ballverlustes sehr hoch ist. Auch diesen Spielansatz gibt es beim MSV unter Gruev zu sehen.
Ein weiterer Aspekt ist das mannorientierte Zustellen des gegnerischen Aufbauspiels, was es in der Hinrunde desöfteren zu beobachten gab. Ziel ist es den Gegner zu langen Abschlägen zu zwingen und dann den Ball dadurch zu erobern. Man möchte damit dem Gegner den Ballbesitz möglichst schnell streitig machen. Ein Mannschaft, die sich auf das Umschaltspiel fokussiert, würde den Gegner erstmal den Ball überlassen und passiv bleiben.
Ein letzter Punkt, der den Ballbesitzansatz von Gruev belegt, ist die Rollenbesetzung und Spielerwahl. Janjic als hängende und umherdriftende zweite Spitze statt eines zweiten, weiteren Strafraum- und Wandstürmers. Schnellhardt als Verbindungsspieler und Zirkulationsmittelpunkt statt Balleroberer und Räumezuläufer Hajri. Ein passicherer Klotz statt des physisch stärkeren, aber technisch unkonstanteren Leuteneckers. Allrounder Albutat statt dem Kämpfer und Pressingmonster Dausch. Und natürlich ein Flekken, der mit dem Fuss wohl zu den zehn besten Torhütern im deutschen Profifussball gehören dürfte.
Ergo: Der MSV unter Gruev ist keine reine Ballbesitzmannschaft, aber fokussiert sich schon auf viele typische Aspekte.
Ballbesitz wird oft gleichgesetzt mit langweiligem TikiTaka ohne Zug zum Tor. Ich kann dieses Argument verstehen, weil die meisten Fans ins Stadion gehen, um unterhalten zu werden. Ein Fussballspiel mit vielen Umschalt- und Vertikalmomenten ist meist attraktiver und intensiver zu beobachten und ist oft gespickt mit mehr Dramatik, Kampf und Unvorhersehbarkeiten, die die Emotionen ansprechen. Aber der Ballbesitz ist auch der Grund wieso wir da stehen, wo wir stehen, nämlich ganz oben.
Ein Argument was ich hier oft gelesen habe ist, dass wir da oben nur stehen weil die anderen zu doof sind und wir von Glück reden können, dass keine andere Mannschaft vorbeigezogen ist. Vergessen wird dabei aber womöglich oft, dass das auch taktische Gründe haben kann, gerade in einer so ausgeglichenen Liga wie der 3.Liga, wo die indivuellen Qualitäten der Spieler dicht beeinander liegen. Auffällig in der Saison ist sicherlich, dass keine Mannschaft konstant gepunktet hat und sich Niederlagen und Siege oft wöchentlich ablösten, teilweise mit überraschend deutlichen Ergebnissen, sowohl in die ein als auch in die andere Richtung.
Dagegen war die Entwicklung unserers MSV relativ konstant. Derbe Klatschen gab es nicht (Wehen ausgenommen). Mehr als ein Gegentor gab es nur zweimal. Hinten stand meist die Null und wenn man vorne nicht durch kam, nahm man deswegen meist einen Punkt mit. Selbst während der torlosen 0:0-Phase (übigens nicht ganz zufällig ohne den zentralen Mann unserers Ballbesitzspiels, Schnellhardt) wurde gepunktet. Woher kommt die Konstanz im Vergleich zu anderen Drittligisten? Klar, vom Ballbesitzspiel. Denn wer auf Ballbesitz spielt, entwickelt das Spiel auf Basis der eigenen Struktur und Dominanz. Diese ist in jedem Spiel ähnlich und vorhersehbar. Wer auf Pressing und schnelles Umschalten spielt, versucht die Probleme der gegnerischen Struktur zu bespielen, was jedoch schwierig ist, wenn es keine Probleme gibt. Man ist immer davon von abhängig, was einem der Gegner anbietet.
Zudem ist man, wenn man sich auf das ein riskantes Umschaltspiel versteift, auch immer abhängig von Zufällen, Glück und Unvorhersehbarkeiten, einfach weil die Strukturen durch das ständige Umschalten immer wieder zerstört werden und sich die Spieler situativ-improvisiert an die Spielsituation angepassen müssen (ein typisches Problem in der Krise unter Lettieri). In diesen Momenten ist es auch ungleich schwerer kollektive Intelligenz zu erzeugen, weil solche Situationen schwer trainiert werden können und kaum Raum für Vereinbarungen und verabredete Abläufe bleiben.
Diese Zufälle haben dann auch indirekten Einfluß auf die taktikpsychologische Ebene. Ein überraschendes Gegentor kann dazu führen, dass eine Mannschaft zur Initiative gezwungen wird. Wenn die Fähigkeit, das Spiel zu gestalten aber wissentlich nicht vorhanden ist (weil man sich das Umschalten beschränkt), fehlen nicht nur die Mittel, sondern auch der Glaube einen - nach der Führung gut verteidigenden - Gegner zu bezwingen. Die Folge sind dann oft weitere Gegentore aus Kontern des Gegners. So kommen dann schnell hohe Niederlagen zustande.
Das passierte Gruev und unserem MSV hingegen nicht, weil der Ballbesitzansatz für eine gewisse Dominanz und Stabilität sorgt. Was oft vergessen wird: Ballbesitz ist nicht nur eine Offensiv-, sondern auch eine hervorragende Defensivstrategie. Denn wenn man selbst den Ball hat, kann der Gegner kein Tor schießen. Man bestimmt im Ballbesitz meist den Spielrhythmus und drückt den Gegner in eine passive und reaktive Rolle. Daraus resultieren auch oft mentale Vorteile.
Geduldiges und kurzpasslastiges Ballbesitzspiel verbesserte auch die Möglichkeiten im Gegenpressing, also die Rückgewinnung des Balles direkt nach einem Ballverlust. Um sich über Ballbesitz nach vorne zu kombinieren, braucht man viele Spieler und Angebote in Ballnähe. Dadurch schafft man zwangsläufig eine Staffelung, die es der Mannschaft ermöglicht, sofort nach Ballverlust wieder Zugriff zu erzeugen und den Gegner nicht selbst in den geordneten Ballbesitz kommen zu lassen.
Der wichtigste Punkt im Ballbesitz ist aber die Variabilität und Anpassungsfähigkeit (was sich dann auch in der Konstanz niederschlägt). Ein Punkt, den auch Spielanalyst Philipp Klug im Trainingslager erwähnte. Man kann die Zonen bestimmen, in den gespielt wird. Man kann Reaktionen des Gegners provozieren. Und man kann kurzfristig sogar zu einer Umschaltmannschaft switchen, wenn man es denn möchte. Umgekehrt ist das viel schwerer bis unmöglich. Weil wenn man 60-70% in der Saison den Ball am Fuß hat, führt das zwangsläufig dazu, dass man sicherer am Ball und in den Abläufen wird. Ballbesitz hat also vor allem auch eine gute Perspektive, weil es langfristige Erfolge verspricht.
Auf eine gute Rückrunde
