Ich würde die These, dass Löw eine ganz bestimmte Ausrichtung konsequent weiterentwickelt, komme was da wolle, infrage stellen. Im neueren Hinblick war gerade das für mich nicht mehr durchgängig erkennbar. Der "Fall Gomez" zeigt genau dies ja auf: in der Vorrunde der Europameisterschaft war er der entscheidende Mann, dann wurde auf einmal rausrotiert, und es kam etwas komplett Unterschiedliches. Löw hat sich durch diese taktische Sprunghaftigkeit davon verabschiedet, dass die Nationalmannschaft eine "Turnierreife" erreichte, wie etwa die Italiener, die mit ihrer Art zu spielen tatsächlich soweit kamen, wie man damit kommen konnte. Ohne immer die deutschen Tugenden herausstellen zu wollen, war gerade das ja oft eine Qualität, welche unsere Nationalmannschaft, unter Beckenbauer beispielsweise, auszeichnete.
Dass Löw sein Überzahl-Angriffs-Kurzpassspiel gegen schwächere Qualifikanten durchbringt, ist zwar richtig, aber es wurde selbst dort verschiedentlich die Grenze dieses Systems aufgezeigt, ohne dass sich danach überzeugende Korrekturen ergeben haben würden. Zuwenig, bei diesem Teilnehmerfeld, dann darauf abzustellen, dass die Qualifikation ja erfolgreich absolviert werden konnte. In Freundschaftsspielen und auch Turnieren wurden taktische Vorgaben, wie sie auch in der Analyse, die im Post 79 verlinkt ist, beschrieben werden, mit relativ schlichten Methoden, nicht nur manchmal, sondern regelmässig, immer wieder ausgehebelt.
Von daher ist zum Beispiel das denkwürdige Italienspiel für mich nicht nur ein Ausrutscher, sondern wurde zu einer Art von Wendepunkt der Einschätzung der Löwschen Methodik. Meine bis zu diesem Spiel schon gelinde kritische Haltung gegenüber diesem Trainer ist seitdem zu einer klar ablehnenden Position mutiert. Ich finde, ein Nationaltrainer kann es sich sowieso nur begrenzt leisten, eine sehr "eigenwillige" Philosophie zu fahren.
Löw gebührt sicher das Verdienst, dass er einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, und tatsächlich viel für die Entwicklung der Nationalmannschaft getan hat. Hierbei hat ihm eine gewisse Sturheit sicher geholfen, und das war auch gut so. Allerdings muss man den Anspruch haben, dass er in seiner Position mit den Gegebenheiten aktiv umgeht: Klose ist einfach in einem Alter, in dem es nicht mehr sein kann, dass er die einzig tragende Säule des ganzen Angriffszentrums bildet. Und Khedira ist viel zu lange verletzt gewesen. Für mich mangelt es ihm, wenn er in der Nationalmannschaft spielt, darüber hinaus an taktischer Disziplin. Wo einem Kroos oder Schweinsteiger auf dieser Position vielleicht mal das Feuer fehlen mag, drängt es Khedira hingegen viel zu oft und viel zu ungestüm mit nach vorne. Hier wäre die Massgabe des Bundestrainers, solche individuellen Unterschiede in der Disposition auszugleichen, und nicht einfach nur anheim zu stellen, dass er sich eigentlich eine Interpretation der Sechserrolle wünscht, wie sie Khedira abliefert, und fertig. Nicht anders im Sturm: wenn kein Klose da ist, muss eine Variante gefunden werden, mit der Kiessling funktioniert. Wenn es der Löw sogar schon mit dem Gomez konnte, dann ist das sicherlich nicht allzu weit hergeholt.
Darüber hinaus muss die Klimafrage gestellt werden, wird aber nicht gestellt. Alle Experten sagen voraus, dass die Möglichkeiten für laufintensive Taktiken sich angesichts erwartbarer Mittags-Glutöfen und Feuchtheissgebieten als Austragungsorten dramatisch verringern. Das führt doch schon quasi automatisch zu der Überlegung, ob man nicht die Alternative "Weit und Hoch" gelegentlich herbeisehnen und benötigen wird. Sich vorzustellen, wie eine Nationalmannschaft unter Jogi Löw italienisch abgezockt dicht hinten drin steht, und auf zwei oder drei entscheidend explosive Konter wartet, oder aber im eleganten spanischen Tiki-Taka-Stil endlos sichere Ballstaffetten bei nur minimalstem Raumgewinn aufbietet, um irgendwann blitzschnell vorzustossen, ist schlicht unmöglich. Bei Löw muss alles fluide sein, nervös, ständig in Bewegung.
All das führt mich dazu, dass ich es gar nicht an Kiessling festmache, sondern vielmehr an der Überlegung: wenn man dreiundzwanzig Optionen zur Verfügung hat, wieso kann dann nicht einer dabei sein, der so ist wie Kiessling?