In Sachen Großchancen und Spielanteile habe ich über 120 Minuten auch kaum einen Klassenunterschied gesehen. Aber unsere Spielanlage war variabler und individuell waren wir auf einigen Positionen auch überlegen, vor allem was Speed und Technik angeht.Öztürk war aber nicht unter diesen Kandidaten. Selbst das Tempo eines Viertligisten hat ihn an seine Grenzen gebracht, obwohl man ihn in Sachen Präsenz und Bemühen nix vorwerfen konnte. Das er auf dem Platz bleiben durfte und der laufstarke Ledgerwood runter musste, zeigte mal wieder unsere Probleme auf der Sechs. Eigentlich bräuchten wir einen Sechser, der beides vereint: Lauf- und Kopfballstärke. Öztürk durfte/musste wegen seiner Kopfballstärke bleiben, hatte aber Probleme die großen Räume zu covern, die durch die vielen langen Bälle und die hektische Spielcharakteristik entstanden sind. So ist in meinen Augen auch das 0:1 gefallen. Bei einem langen Ball fehlte die Kompaktheit und der Zugriff im Sechserraum und so konnte sich Essen dort durch eine einfach Kombination eine freie Schussbahn erspielen.
Überrascht war ich, wie die Essener das Spiel begonnen haben. Ich hatte mir einer passiven, abwartenden Spielweise gerechnet, aber die gingen voll drauf und standen wirklich sehr hoch. Die ersten 30 Minuten gehörten deswegen RWE, ohne Frage. Die Rolle als Underdog kam ihnen dabei natürlich zu Gute. Sie durften auch mal den dreckigen Ball spielen, ein riskantes 1 zu 1 eingehen oder einfach eine Seite überladen und dort Überzahl herstellen. In Sachen Spielfreude und Kampfgeist waren sie uns überlegen. Unsere Jungs zeigten sich sichtbar überrascht und überfordert. Sie wollten gerne Spielkontrolle und Sicherheit. Die konnten sie aber erst erlangen, als Essen die Pressinghöhe und -intensität phasenweise reduzierte.
Nach der Halbzeitpause stellte man sich besser auf die Essener ein. Zum einen nahm man den Kampf auch körperlich an, zum anderen reagierte man auf das Pressing der Essener mit mehr langen Bällen und positionierte sich auch im Hinblick auf die zweiten Bälle entsprechend (Außenspieler meist hoch und eingerückt). So konnte man den Druck von der eigenen Abwehr nehmen und vorne schnell gefährlich werden. Ein großer Nachteil bei hohen Bällen ist natürlich immer der Verlust der Spielkontrolle, weil die Chancen, einen hohen Ball zu behaupten bei etwa 50% liegen. Wenn man den Ball dann nicht behauptet, spielt der Gegner in eine ziemlich offene Formation, weil die Defensiven tief und die Offensiven hoch stehen. So sind die Lücken im Mittelfeld zu erklären. Auch die Umstellung auf ein 4-4-2 nach der Einwechslung von Zoundi verstärkte diese Tendenz. Baumann wollte mehr offensive Präsenz und riskierte Lücken im Mittelfeld, das aber auch von den Essenern immer weniger bespielt wurde. In diese Lücken platzierte Baumann erst de Wit (der vorne bei hohen Bällen sowieso keinen Stich mehr machte) und später noch Wolze. Beide profitierten von den großen Räumen, ihrem Spielverständnis (de Wit) und ihrere Dynamik (Wolze). In meinen Augen ein sehr guter Schachzug auf den Fascher keine Antwort hatte. Hier zahlte sich dann auch die Qualitätvorteil des Kaders und der Bank aus.
Aber zurück zur zweiten Halbzeit. Ich teile die Meinung der meisten, dass wir das Spiel bis zur Unterbrechung im Griff hatten und drauf und dran waren das 1:0 zu erzielen. Die Essen waren in dieser Phase auch konditionell unterlegen und mussten der intensiven Anfangsphase Tribut zollen. Ofosu-Ayeh mit klasse Offensiv-Aktionen auf der rechten Seite, Eichner dagegen auf der anderen Seite blass. Hier waren die Unterschiede unserer beiden AV in der Spielanlage sehr offensichtlich. Gerade für das von Baumann bevorzugte Einrücken der offensiven Außen, brauchen die defensive Außen Speed und Technik. Deswegen wäre Eichner trotz seiner unbestrittenen Qualität in der defensiven Stabilität für mich keine Option für die Zukunft.
Nach der Unterbrechung stellte sich Essen etwas besser auf unsere Spiel ein und wir standen für meine Begriffe zu hoch. Die Verbindungen fehlten und die zweiten Bälle wurden nicht gut behauptet. Irgendwie war Essen näher an der Führung als wir. Diese Tendenz übertrug sich in die Verlängerung und endete mit dem 0:1. Dem zur Verlängerung gekommenen Feisthammel fehlte deutlich Sicherheit und Passgenauigkeit im Offensivspiel, wohl wegen der mangelnden Spielpraxis. Aber ich kann verstehen, dass Baumann ihn wegen seiner Kopfballstärke gebracht hat. Bollmann ging dann zur zweiten Halbzeit der Verlängerung in den Sturm. Baumann riskierte alles und stellte auf so eine Art 3-2-2-3 um. Diese Formation löste sich aber nach dem 1:1 wieder auf und Bollmann ging zurück nach hinten. Im Elfmeterschießen war ich mir irgendwie ziemlich sicher, dass wir gewinnen. Keine Ahnung wieso. Qualität und mentale Stärke, dazu unsere Kurve im Rücken. Ich hatte eigentlich nur nach dem Fehlschuss vom King kurze Bedenken.
Ansonsten hat der Abend alles geboten, was das Fussballherz begeht. Eine wirklich klasse Stimmung von beiden Fangruppen, Kampf, Dramatik, Wetter- und Zuschauereskapaden, Verlängerung und einen Sieger der MSV heisst. Der Schiri war übrigens auch klasse. Er hat viel laufen lassen, ist auf Schauspielversuche wenig reingefallen und hat dann doch durchgegriffen, als es nötig war. Ich konnte das Spiel leider nicht in vollen Zügen genießen, da ich in mitten von Essenern saß. Aber zumindest der Kollege neben mir war echt ok

Auch wenn`s nach dem engen Spiel und dem knappen Sieg gegen einen unterklassigen Verein komisch klingen mag: Mich hat das Spiel in der Meinung bestärkt mit Baumann weiter zu machen. Er hat die richtigen Anpassungen vorgenommen, System und Personal passend zur Spielweise des Gegners geändert und ich habe auch bei der Kommunikation innerhalb der Mannschaft und zwischen Trainer keine Misstöne feststellen können - eher im Gegenteil. Auf mich machte das Konstrukt einen relativ gefestigen Eindruck...