Ich glaube, es gibt nur zwei Kategorien von echten Warmguckern: diejenigen, denen es echt schnell saukalt unten rum und an den Fingern wird, und diejenigen, die erbarmungslos schüchtern sind. In beiden Fällen helfen flammenden Appelle weniger. Man muss das vorsichtig aufbauen und diese Menschen ganz sachte an die Erlebniswelt Stadion heranführen.
Zunächst mal einen wirklich guten Katalog mit High-Tech-Bergsteigerunterwäsche besorgen, in welchem ambitionierte Photographen knackige Körper in lustigen Situationen im Schnee, nur mit der Unterwäsche an, festgehalten haben. Natürlich ist der Ausrichtung und Orientierung des/der Warmgucker/innen in geschlechtsspezifischen Angelegenheiten Rechnung zu tragen, aber keine Sorge, hier ist die Werbebranche schon seit Jahren genderspezifisch voll auf dem Laufenden, und es gibt wirklich was für jeden Geschmack.
Ein zweiter Schritt geht dahin, sachte und ohne, dass der Warmgucker (aus technischen Gründen wird hier d.W. auf geschlechtsspezifische Artikel verzichtet) etwas bemerkt, die Heizung herunterzudimmen. Achtung! Dieser Schritt ist der langwierigste und gefährlichste, und es kann nur empfohlen werden, schon im Hochsommer damit zu beginnen. Ein richtiger Warmgucker hat selbstverständlich dann schon die Heizung an, wenigstens abends.
Irgendwann, wenn man Wochen durchgehalten hat, kann man mal beiläufig einflechten: "...eeh, viel kühler ist es im Stadion eigentlich auch gar nicht, wenn ich es mir recht überlege...bei dir ist auch gar nicht mal SO warm..."
Jetzt kommt die Bergsteigerunterwäsche ins Spiel und das Zeug, was es im Zubehörhandel für Draussen-Menschen noch alles gibt: kleine Heizöfen für die Taschen. Gorilla-Abfahrts-Gesichtsmasken, Bärenfellstiefel, Flachmänner aus handgedengeltem Silber mit hochprozentigem Edel-Bölkstoff, der von irgendwelchen französischen Padres mit den blossen Füssen aus den Trauben gequetscht und dann zwei Jahrzehnte lang unendlich veredelt wurde, etc. pp.
Ab hier ist zweifelsfrei Phantasie gefragt, sowie das individuelle Eingehen auf die Persönlichkeit des zukünftigen Kälteopfers. Ab zehn Grad Aussentemperatur sollte man rücksichtslos alles raushauen, auch den Overall, mit dem Messner und Fuchs die Antarktis durchquerten. Probefahrten machen Sinn: einmal zum Stadion, einmal im Auto mit allen Fenstern zu und auf voller Gebläsestufe drum rum und hinterher die heimtückische Frage: "Na, war dir da auch nur eine Sekunde lang irgendwo kalt, am Stadion?...siehste, und Samstag wird es noch ein Grad wärmer, stand in der Zeitung..."
Ein heikler Punkt: natürlich ist der Warmgucker, trotzdem er so hartleibig das Stadionerlebnis verweigert, im Prinzip ein geliebter Mensch. Deshalb die Frage: darf man offenkundig betrügen? Ich meine, ja! Blitzschnell bei der Wettervorhersage auf die Aufzeichnung auf dem Festplattenrecorder umschalten, die eine Vorhersage von vor drei Monaten abspielt, in der wunderbare zweiundzwanzig Grad bei lauschiger Frühlingsluft für das ganze Wochenende angekündigt werden, muss drin sein! Schliesslich geht es um etwas, und es geschieht alles nur zum Besten dieses chronisch emotional unterversorgten Menschen, den wir hier der Kürze halber despektierlich zum "Warmgucker" gemacht haben.
Tja, wenn der Mensch, der nicht ins Stadion will, aber chronisch schüchtern ist, dann ist das noch eine andere Kiste, und es kommt vielleicht sogar die Kombination beider Problemlagen vor. Den Schüchternen sollte man auf gar keinen Fall mit Selfies glücklich besoffener überschäumend taumelnder Freude vom Handy oder mit einer feierlichen, dicht gedrängten Nord überfallen. Für solch einen Menschen war es das wahrscheinlich schon mit dem Besuch des Stadions, er wird sich einfach nie mehr auch nur in einen Zehn-Kliometer-Radius drum herum trauen.
Zum Glück haben wir ja Alternativen, wir können jederzeit die Süd zeigen, am besten noch die, wo das Hellmicher Schweizerkreuz inmitten der Sitzreihen verloren prangte. Das sah einsam aus, sehr still, wie ein Bergkreuz nach einer langen Wanderung durch Tiroler Seitentäler. Man kann lange gemeinsam darauf gucken, und sich in die Ruhe, die das Bild vermittelt, ganz hinein denken. "Irgendwie schön..." sagt man vielleicht, wie abwesend.
"Und dort sitzt echt immer kaum jemand...?" wird der Warmgucker mit stockender Stimme nachfragen, und man denkt an den Fankäfig nebenan, das kopfschmerzlastige Dröhnen von deren Pauken, die Beschimpfungen, wie die rasenden Auswärtsfans gegen das Sicherheitsglas mit verzerrten Gesichtern ihre Fäuste schlagen, das wohlige Gruseln dabei, wenn du ihnen nett zurück gewunken hattest..."...also nee ehrlich, dort ist es mir fast zu still, deshalb geh ich sonst auf die Nord...aber wir suchen uns ein lauschiges Plätzchen aus, da oben in der Ecke vielleicht, dick in die Decken eingepackt...es wird wie ein Abend am Lagerfeuer früher, nur ne Klampfe darf man nicht mit rein bringen...dagegen ist unser Waldspaziergang sonst eine Massenveranstaltung...überhaupt diese modernen Stadien...eigentlich hat jeder Zuschauer gewissermassen seinen individualisierten Aufgang, und ist ganz und gar abgeschottet..."
Auf jeden Fall, soviel ist fast sicher: es kann nur drum gehen, dass die Person einmal hineingelockt wird. Die Kälte, die Vorbehalte, alles wird wie weggeblasen sein. Derjenige, der es möglich machte, wird aber keinen Dank erhalten, sondern eher Vorwürfe, die mit aufgerauht krächzender Stimme auf der Rückfahrt raus gerotzt werden: "...meine Fresse, dein Gelaber immer wegen der Kälte...und ich zieh auch noch den albernen Skianzug an, in dem man gar nicht richtig abfeiern kann, ohne sofort einen Schweissausbruch zu kriegen...!..." oder "...du bist schon komisch: alle feiern da drüben wie irre, Körper an Körper, und wir sitzen denen genau gegenüber u. ganz allein wie auf der Bank im Wald...!..."
Dann kann man sich einen grinsen, und sich zu Hause zusammen noch mal die Highlights im Stream angucken. Man weiss, ab jetzt läuft es, ein Warmgucker hat sich den Virus eingefangen für die Art von Wahnsinn, für die es keine Heilung gibt, und keine andere Therapie als den Spieltag im Stadion.
Soll man das dann gut finden, oder war es ziemlich abgefackt, jemandem das eingehandelt zu haben?!...hmm, da wären wir bei der Moral von der Geschichte...ach Quatsch, natürlich ist das nur gut, saugut und endgeil, dieses unheilbare Stadionfieber, bei dem einem kein Arzt mehr helfen kann...ich merk grade, dass ich nicht mehr ruhig hier rumsitzen kann, ich will sofort da hin, den grünen Rasen sehen, die Geräusche, den Geruch, die Farben und Formen, die Spieler während dem Warmmachen, während die Schiris an der Seitenlinie auf und ab sich auch warm machen und man überlegt, was das diesmal wieder für Honks sind, all diese Leute vor dem Spiel, die in dieser seltsamen fröhlichen Spannung herumlaufen...das Fachsimpeln, obwohl immer noch keine Aufstellung auf dem Handy erscheint, dann endlich "...erhebt euch von den Sitzen, ihre Zebras, hier ist die AUFSTELLUNG VOM MSV..."