Ich bin auf deine Antworten sehr gespannt
Kann ich gerne später versuchen.
Wie verhält sich unsere Mannschaft im Ballbesitz, wie bei Ballbesitz Lübeck und wie in den jeweiligen Umschaltmomenten?
Im
Ballbesitz ist unverkennbar, dass man sich Torchancen aus Positionsangriffen erspielen möchte. Die gesamte Mannschaft ist am Angriffsspiel beteiligt. Deswegen wird fast immer versucht geduldig und geordnet von hinten aufzubauen. Dabei nutzt man gewisse Prinzipien des Juego de Posicíon, was vereinfacht gesagt nichts anderes heißt, als das die Mannschaft ein gleichmäßiges Netz über das Spielfeld spannt und sich dabei immer an der Position des Balles und der Mitspieler orientiert. Im Gegensatz zum Image ist diese Spielweise überhaupt nicht statisch, sondern von Bewegung und Flexibilität geprägt. Die Positionen werden keinesfalls starr interpretiert, sondern es ist "nur" wichtig ist, dass gewisse Regeln an Zonen- und Linienbesetzungen eingehalten werden. Sinn ist immer das Bilden von Rauten und Dreiecken, um diagonales Passspiel* zu ermöglichen, was den sicheren und konstruktiven Ballvortrag über Kurzpass gewährleisten soll.
Besonders interessant ist dabei die Rolle der Außenverteidiger.
@shanghai beschrieb es charmant als Box to Box-AV. Diese Beschreibung unterstreicht schon, dass sie sich nicht wie üblich an der Seitenlinie aufhalten, sondern eher in den Halbspuren. Entweder überladen sie die offensiven Halbräume durch Nachstoßen oder sie rochieren mit dem Achter. Der erste Fall wird meist benutzt, wenn der Innenverteidiger nach einer Verlagerung andribbeln kann/soll (man zieht damit auch die Räume für das Dribbling frei), der zweite Fall eher in ruhigeren Aufbausituationen, wenn der Gegner auf der entsprechenden Seite präsenter ist (was auch Sinn für die Konterabsicherung macht).
In diesem Zusammenhang macht sowohl die Transferpolitik (Außenverteidiger und Achter-Position werden gleichwertig vierfach besetzt) als auch das Spielsystem mit der Solo-Sechs Sinn. Denn wenn man mit Doppel-Sechs spielt, sind die Räume für das Nachstoßen der AV und das Rochieren mit dem Achter durch den zweiten Sechser besetzt. Es ist keinesfalls so, dass dieser Ansatz unter Lieberknecht komplett neu ist. Schon in der letzten Saison und in der 2.Liga wurde die Außenverteidiger-Rolle komplexer als in üblichen Spielideen eingebunden. Gerade für Sicker ist das ein Segen, weil es seinem Stärkenprofil sehr gut entgegen kommt und er sich beim MSV so optimal entwickeln kann. Aber auch Bitter und Sauer dürften über diese Rolle nicht traurig sein.
Auch die Solo-Sechs gab es MIT BALL letzte Saison schon. Der Unterschied gegenüber der letzten Saison sehe ich darin, dass wir die Achter-Rolle klarer einbinden, sowohl was die Positionierung als auch die Rochaden mit dem AV betrifft. Albutat hatte eher eine Freirolle und überlud gewisse Zonen im Freestyle und instinktiv. Im Moment scheinen (ich mag mich auch irren) die Abläufe etwas klarer zu sein.
Der entscheidende Unterschied zur letzten Saison betrifft aber das Spiel
gegen den Ball. Letzte Saison sind wir aus einer 1-3-Staffelung angelaufen, die Saison ist es ein 1-4. Dabei wird nicht mit klaren Mannorientierungen gepresst, sondern auch viel mit Deckungsschattennutzung und gezielten Zugriffsmomenten gearbeitet. Insgesamt erscheinen die Anpassungen sehr gut zu sein. In der Vorbereitung wurden selbst Erstligisten damit gestresst und aus dem Pressing Torchancen erarbeitet. In den drei Saisonspielen konnte das "neue" Pressing selten bewundert werden, weil die Gegner selten flach aufbauten. Lübeck versuchte knapp 15 Minuten vor der Pause aus dem geordneten Aufbau nach vorne zu kommen. Es gelang ihnen aber so gut wie nie. Im Gegenteil erspielte sich der MSV in dieser Phase mehrere Torchancen aus dem Pressing. Die sonstigen 75 Minuten verlegte sich Lübeck deswegen auch aufs Abwarten, Umschalten und Bolzen.
Zentraler Aspekt beim
defensiven Umschalten ist das Gegenpressing. Das ist auch folgerichtig, weil man über das Positionsspiel sowieso viele Spieler in Ballnähe hat. Das Gegenpressing ist in solchen Moment auch weniger ein Spielmacher (wie es Klopp bezeichnete), sondern vor allem zur Unterbindung des gegnerischen Konters sehr wichtig. Wenn das Gegenpressing nicht greift, bleibt noch die Rückraumabsicherung (über die Innenverteidiger, ggf. den ballfernen AV und die Solo-Sechs) und das Rückwärtspressing der offensiven Spieler. Alle Aspekte des defensiven Umschaltens leben sowohl von taktischen Disziplin als auch von individueller Intensität. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, würde ich die Intensität grundsätzlich als gut und die Abläufe als passend bezeichnen. Im Detail gibt es sicherlich noch Verbesserungspotential (Edit: Genau das erwähnte Torsten auch auf der PK, die nach meinem Post veröffentlicht wurde)
Das Verhalten im
offensiven Umschalten hängt wesentlich von der Position des Gegners ab. Steht der Gegner aufgefächert und hoch, attackiert der MSV die Tiefe, steht der Gegner abgesichert, wird der Ball hinten rum gespielt, um die eigenen Angriffe aus dem Positionsspiel wieder neu vorzubereiten.
In welchen Phasen entstehen die Probleme, aus welchen Phasen ergeben sich vielversprechende Ansätze?
Probleme entstehen vor allem im Ballbesitz/defensiven Umschalten. Praktisch alle Chancen von Lübeck wurden so "vorbereitet". Das ist in gewissen Grenzen aber auch normal. Selbst die besten Mannschaften der Welt gestehen dem Gegner Umschaltsituationen zu, die aus Fehlern im eigenen Ballbesitz entstehen. Umgekehrt heißt das auch, verbessern wir unser Ballbesitzspiel, nehmen wir dem Gegner die Chancen. Deswegen ist es logisch, dass Lieberknecht darauf beharrt, den eigenen Ballbesitz und die Abläufe zu verbessern, um erfolgreicher zu sein.
Bei der Idee mit dem nachrückenden/rochierenden AV sieht man im Moment (noch?) vereinzelte Probleme mit der richtigen Körperstellung. Gerade weil der AV gegen die Verschiebebewegung des Balles läuft, steht er oft mit dem Rücken zu ihm. Durch die provozierte Dynamik ist das Timing der Läufe und des Passspiels elementar wichtig, um den Ballvortrag zu sichern. Hinzu kommen natürlich die Bewegungen der Gegenspieler, die man nicht planen kann. Lübeck spielte ein raum- bzw. ballorientiertes 5-3-2, was aus dem geordneten Ballbesitz sehr schwer zu bespielen ist (das weiß ich aus eigener Erfahrung), da das Zentrum kompakt gehalten wird und auch Verlagerungen durch die breite letzte Linie noch immer gut abgesichert sind. Das meinte Lieberknecht wohl auch damit, als er sagte, dass es in Lübeck noch andere Mannschaften schwer haben werden.
Grundsätzlich sind alle unsere Torchancen (und das waren tatsächlich sechs bis sieben) entweder aus dem eigenen Ballbesitz oder aus den Pressingabläufen entstanden. Es gab kaum Chancen, die aufgrund individueller Qualität erzwungen oder durch Körperlichkeit erkämpft wurden oder uns per Zufall vor die Füße gefallen sind. Hier kann man ebenfalls Lieberknechts Fokus auf die Kollektivität wiederfinden. Es ist keine Dampfplauderei, sondern Fakt.
In welchen Phasen treten wir dominant und wie ein Aufstiegskandidat auf, in welchen Phasen sind wir eher hilflos und wie ein Absteiger?
In fast allen Phasen traten wir dominant auf. Lübeck musste sich fast vollständig nach uns richten. Es gab Phasen, wo der VfB versuchte selbst das Spiel zu machen, sahen sich aber einem Pressing gegenüber, was sie nicht umspielt bekamen. Also wurden sie wieder reaktiver und abwartender.
Hilflos wirkte unser MSV nur in der einen oder anderen Umschaltsituation. Wie kann man das ändern? 1. Fehleranfälligkeit im Ballbesitzspiel verringern 2. Gegenpressing 3. Rückraumabsicherung
Kann ich eine Spielidee ableiten?
Wer keine Spielidee erkennt, betrachtet den Fußball entweder sehr oberflächig oder weiß nicht, was mit Spielidee gemeint ist.
Planlosigkeit kann man dem Trainerteam sicherlich nicht vorwerfen.
Und wenn ja, ist es möglich diese Spielidee mit diesem Kader in den nächsten Wochen verbessert umzusetzen?
Na klar. Spielpraxis, Analyse, passende Trainingsgestaltung, Spielpraxis, Analyse, passende Trainingsgestaltung, Spielpraxis, Analyse, passende Trainingsgestaltung, Spielpraxis, Analyse, passende Trainingsgestaltung,...
Individuell problematisch ist sicherlich die Sechserposition, auch wenn sie nicht so fokussiert in den Spielaufbau eingebunden wird. Jansen ist ein sehr gut geeigneter Solo-Sechser, zeigt aber in Stresssituationen eine gewissen Unkonstanz im attackierenden Passspiel. Auch seine Positionierung muss er ggf. noch etwas anpassen. Er neigt dazu, kleinräumige Angriffe zu unterstützen und verliert dann die Raumkontrolle, was aufgrund der fehlenden Absicherung des nicht vorhandenen zweiten Sechsers immer gefährlich werden kann.
Auch die Innenverteidigung darf als "Baustelle" betrachtet werden. Sehr gute Ansätze zeigte vor allem Fleckstein, der aber mit seinem einzigen Fehler den Gegentreffer vorbereitete. Schmidt finde ich als Zweikämpfer und tiefste Absicherung etwas geeigneter (oder reifer) als Gembalies, im Spielaufbau aber (noch?) etwas zu fahrig. Keine Ahnung, wer sich für den Abgang für Boeder "stark" gemacht hat. Es war ein Fehler. Zumindest wenn wir so spielen wollen wie in Lübeck.
Werden die Spieler in ein taktisches Korsett gezwungen oder haben sie eher viele Freiheiten?
Ich finde das sehr schwer zu beantworten. Ein Pauschalurteil ist sicherlich zu billig. Natürlich müssen die Spieler sich an vorgegebene Prinzipien und Abläufe halten, damit das Positionsspiel funktioniert. Den Mehrwert der Positionsrochaden würde ich niemals leugnen (Gladbach unter Rose macht das übrigens auch viel). Das ist elementar wichtig, um gegen einen kompakten Gegner überhaupt zu Torchancen zu kommen. Aus einer statischen Formation wird das ohne individuelle Überlegenheit (die wir nicht im Kader, sondern nur auf dem Krankenbett haben) nicht klappen und von allen Drittligisten zu verteidigen sein. Die Mannschaft muss Flexibilität in der Raumbesetzung an den Tag legen. Dazu gehört ein gewisses Maß an Mut, Spielintelligenz und auch Eingespieltheit. Das Risiko bei Fehlern, den Gegner Konterchancen zu ermöglichen, schwingt dabei immer mit. Die Kunst ist es, die Freiheit der Spieler so einzusetzen und zu nutzen, dass sie das Kollektiv besser und nicht anfälliger machen.
Was würde eine andere Formation ändern/verbessern bzw. ist sie als Grund der Probleme auszumachen?
Nein. Die Kaderstruktur und die Spielidee passen zusammen. Das 4-1-4-1 ist die optimale Formation für die Spielidee im Pressing und im Ballbesitz. Wenn man die Formation ändert, muss man gewisse Aspekte wieder neu anpassen und damit auch Aufbauarbeit über Board schmeißen.
In diesem Zusammenhang sollte sich jeder der Lieberknecht-raus-Forderer auch mal Gedanken machen, wie es danach weiter gehen und vor allem wie es besser werden soll. Eignet sich der Kader überhaupt für ein andere Spielidee und wenn ja, werden wir damit zwingend erfolgreicher? Ich habe da wirkliche Zweifel und behaupte sogar, dass es auch umgekehrt kommen und ein Trainerwechsel der Sargnagel unseres Vereins werden kann. Solange die Mannschaft marschiert und wir nicht in akute Abstiegsnot geraten (was ich nicht glaube) würde ich vorbehaltlos mit Lieberknecht weiter machen.
*Diagonales Passspiel verbindet die Vorteile von horizontalen (Verlagerung) und vertikalen (Torannäherung) Pässen und negiert deren Nachteile (kein Raumgewinn bei horizontaler und ungünstige Körperstellung bei vertikalen Pässen).