Ukraine-Tour
Es hat Deutschland wieder fest im Griff -das Fieber eines großen Turniers.
Als ich am Donnerstag in Richtung Ukraine startete, sah man nur hier und da ein Deutschland-Fähnchen. Bei meiner gestrigen Rückkehr hatte sich vieles verändert. Als ich mich nach 3.000 Kilometern die letzten 50 Meter unserer Straße hinaufkämpfte, säumten meinen Weg Fahne um Fahne. Die Nationalmannschaft bestimmt heute die Titelseiten der Tageszeitungen. Da sind sie wieder -die weiss gekleideten Menschenmassen vom Brandenburger Tor bis München. Heute blicke ich in der Rheinischen Post auf einen übergroßen Mario Gomez, der gen Himmel jubelt. Im Hintergrund ziemlich unscharf:“Duisburg“. Ja, wir waren wirklich dabei.
Mich packte dieses EM-Feeling an irgendeiner polnischen Raststätte einige hundert Kilometer vor Krakau. Ich stehe da und blicke auf die an mir vorbeirasenden Autos. Wie sie an mir vorbeisausen, hupend mit ihren deutschen, polnischen, russischen, englischen oder kroatischen Fahnen. Autos, die komplett schwarz-rot-gold lackiert sind. Gänsehaut pur zu sehen, wie sich halb Europa auf den Weg macht.
Krakau ist abseits der Plattenbauten eine wirklich schöne, saubere und fortschrittliche Stadt. Hektisch bahnen wir uns den Weg durch die Gassen zum Public Viewing. Es verbleiben nur noch wenige Minuten bis zum Eröffnungsspiel. An irgendeinem Bildschirm erahne ich den Anstoß zur Fußballeuropameisterschaft 2012. Hier können wir nicht bleiben. Zu voll. Viele verfolgen gebannt das Eröffnungsspiel ihrer polnischen Mannschaft. Bemerkenswert viele lässt es aber auch komplett kalt und sie gehen ihren gewohnten Aktivitäten nach. Ein Land begeistert sich für die EM? Ja -aber (noch) kein allumfassendes Fußballfieber wie wir es von der WM 2006 kennen. Auf einem Marktplatz ist die große Videowand ausgefallen. Kein Public Viewing. Das große Rudelgucken an den Stadien der ortsansässigen Vereine ist in der Kürze der Zeit nicht mehr erreichbar. Also geht es in eine Kneipe. Polnische Fans jubeln. Das zu diesem Zeitpunkt verdiente 1-0 ist gefallen. Die besten Plätze haben die Engländer eingenommen, die in Krakau mit einer Ü-60-Fanszene aufwarten und sich daher die Sitzplätze redlich verdient hatten. In Krakau residiert übrigens die englische Nationalmannschaft.
Da kommen sie herein und stellen alles auf den Kopf: Die Iren. Gröhlend, Gitarre spielend, sich sofort mit den Deutschen verbrüdernd und sodann gemeinsam gegen die Engländer pöbelnd. „Deutschlaaaaand – Deutschlaaaaand“ erklingt es nun aus deutschen und irischen Kehlen. Es ist, wie es immer ist, wenn Deutsche und Iren respektive Schotten aufeinander treffen. Man kann eben gut miteinander. Das Spiel ist vorbei und das Geschehen verlagert sich auf die Straße und alsbald in ein Irish-Pub. Was für eine Party. Vor mir springen Männchen im grünen Trikot herum und schreien mich an:“RRRRRRRRRRRRRRRRRummenigge“ und „BeckenbaueRRRRRRRRR“. Wie sie es lieben. Dieses rollende „R“. Fieberhaft suche ich in meinem Kopf nach einem großen irischen Spielernamen und endlich brülle ich ihn heraus: RRRRRRRRRRoy Keane! Ab jetzt eskaliert es komplett. Die Iren: Weltmeister im Feiern. Alles friedlich und freundliche Polen, die sich aber rar machen und das Feld ihren feierwütigen Gästen überlassen. Naja, das Eröffnungsspiel war dann wohl doch zu ernüchternd.
Der Tag danach. Der Wecker klingelt, aber ich bin längst geduscht. Zuschauen war gestern, heute geht es für uns um alles! Die gefürchteten letzten 300 Kilometer. Hinter Krakau enden die Autobahnen. Nix ist fertig -auch nicht auf polnischer Seite. Wir müssen alle durch dieses Nadelöhr, an welchem Europa und die Schengengrenze endet. Einspurig und bei erlaubten 50 oder 70 km/h kilometerlang durch Dorf um Dorf im Schritttempo. Die Sonne scheint. Aber es geht. Es ist erträglich, denn wir sind eine prima Truppe an Bord des Fanbusses, was nicht nur an den etwa 10 Zebras lag. Irgendwann vor der Grenze werden wir von ukrainischer Polizei auf einen Rastplatz gewunken. Was uns nun folgt, ist perfekte Abwicklung. Es gibt eine eigene Spur für Busse. Wir fahren an einer endlosen Kolonne wartender Autos vorbei und blicken auf deutsche Kennzeichen so weit das Auge reicht. Weisse Trikots, deutsche Fahnen. Unfassbar, wieviele Verrückte es gibt, die sich einfach in ihr Auto setzen und in die Ukraine heizen. Wenige Minuten später heißt es schon:“Willkommen in der Ukraine“.
Die Ukraine ist eine andere Welt. Das einzige, was Polen und die Ukraine gemeinsam haben, ist die Ausrichtung eines Fußballturniers. Der in vielerlei Hinsicht bestehende Rückstand und die Baufälligkeit von Häusern sowie Straßen werden aufgewogen durch eine große Freundlichkeit. Da steht das alte 70jährige ukrainische Mütterchen, ein Kopftuch tragend und jubelt dir aus einem zahnlosen Mund entgegen. Was für eine geradezu greifbare Freude aller Ukrainer: Endlich, Europa zu Gast in der Ukraine -in einem Land, in welches sich nur selten Fremde verirren. Als die deutschen Kolonnen in Lemberg einfahren, sind die Ukrainer in den ersten zwei Stunden unserer Ankunft vollkommen „geflasht“. Vom Kleinkind über den Taxifahrer bis hin zum Greis jubelt uns alles zu und wir jubeln zurück. Jede Gestalt im weissen Trikot wird gefeiert, als sei gerade Brad Pitt oder ein Marsmensch aus dem nichts aufgetaucht. Irgendwann hat man sich an unserem Anblick gewöhnt und winkt uns nicht mehr aus Autos oder Bussen, die irgendwann in den 50er Jahren gebaut worden sein müssen, zu.
Auf dem Fanfest in Lemberg wird erstmal die Duisburg-Fahne vor einem großen Denkmal aufgehängt. Hier treffen wir Yike und Berlin-Support, die ebenfalls Unglaubliches zu berichten haben und deren EM-Tour nach dem Spiel noch lange nicht beendet sein wird. Vor der Duisburg-Fahne posieren nun auch Wildfremde, die sich als MSV-Fans vorstellen und zur Legitimation ihres Fanseins Ruhrpottschals vorzeigen.
Ewige Kilometer sind bis zum Shuttlebus, der uns zum Stadion bringt, zu laufen. Dabei sehen wir einiges von Lemberg. Krakau ist definitiv schöner, aber Lemberg hat wirklich einen mittelalterlichen, geradezu morbiden Charme. Überall nur Kopfsteinpflaster. Der Duisburger Kalkweg ist dagegen ein glatter Parkettboden.
Am Stadion angekommen, setzt -wie es sich für so ein Abenteuer gehört- ein starkes Gewitter ein. Nun ist die Eintrittskarte völlig durchnässt. Kein Problem, denn die Scanner an den Stadiontoren funktionieren ohnehin nicht. Aber immerhin: Das Stadion steht und es sieht von Innen richtig gut aus. Tolle Sicht und Akustik. Derweil werden vor den Toren die Karten für ein Appel und ein Ei verscherbelt.
Nun wurde es erstmal etwas stressig. Denn bereits 2 ½ Stunden vor Spielbeginn war fast das gesamte Stadion (inklusive Portugalkurve) mit deutschen Fahnen beflaggt. Andere Zebras hatten schon ihren Platz ergattert -wir noch nicht. Wurden dann aber in Höhe Mittellinie (Oberrang) fündig. Als hier ein Ordner intervenierte, half nur noch dumm stellen und die Fahne einfach hängen lassen.
Auf der Videowand führte Dänemark 1-0. Großer Jubel der deutschen Fans. Nun war die Zeit für eine Stadionrunde gekommen. Die Gastronomie ging allerorten in die Knie. Getränke oder Essen gingen stellenweise einfach aus. Wer sich also darüber beschwert, dass die Versorgung beim ersten MSV-Training nicht optimal ist, sollte mal ein EM-Spiel besuchen.

Ich bin weit davon entfernt, die Ukraine all zu hart kritisieren zu wollen. Eine perfekte Gastronomie und Infrastruktur hätte das Abenteuer Ukraine einfach nicht perfekt werden lassen. Leider hatten sich nicht viele Ukrainer eine Eintrittskarte leisten können. Diejenigen, die den Weg ins Stadion gefunden hatten, präsentierten nicht selten die deutsche Flagge. Ein wirklich deutschfreundliches Volk. Dann stehe ich auf einer Tribüne, welche die Portugal-Tribüne sein soll. Bis auf eine Ecke sehe ich auch hier nur Deutsche. Unglaubliche 16.000 oder mehr müssen es gewesen sein. Die UEFA hatte ¾ des originär portugiesischen Kontingents vom DFB absetzen lassen. Mehr als die prognostizierten 500 Portugiesen waren es dann aber doch.
Viele nörgeln (berechtigterweise) über die Heimspielstimmung der Deutschen. Leute, besucht einfach mal ein Turnier und gönnt euch dieses Erlebnis.
Gegen Portugal hat auf den Rängen wirklich nichts gefehlt. Gellende Pfeifkonzerte, mit nackten Oberkörpern auf dem Sitzplatz hüpfende Fans, Dauergesänge und Pyrotechnik. Der Schiri drohte zwischenzeitlich mit Abbruch, weil leider immer wieder Gegenstände (insbesondere aus der Choreo stammende Papierkugeln) auf den Platz geworfen wurden, wenn sich ein Spieler Portugals erdreistete, eine Ecke vor dem deutschen Mob auszuführen. Das hätte wirklich nicht sein müssen. Das führt zu einem Choreo-Verbot bei den weiteren Deutschland-Spielen.
Zum Spiel muss ich wenig sagen. Ihr habt es alle gesehen. Eine ganz harte Nuss gegen 11 tief stehende Portugiesen, die trotz geringer Spielanteile die besseren Chancen hatten. Vor vier Jahren hat Portugal noch munter gegen Deutschland nach vorne gespielt. Mittlerweile hat sich unsere Truppe einen derartigen Ruf erspielt, dass selbst Portugal gegen uns mauert. Überragend Hummels, der mich mit seinen tiefen Vorstößen in die gegnerische Hälfte an Julian Kochs Aktionen 2010/11 erinnerte. Zugegebenermaßen hatte Koch bei seinen Läufen in Köln nicht GANZ so starke Gegenspieler.

Neuer ist auch in Topverfassung. Khedira ordentlich. Der Rest naja...
Etwa 20 Minuten vor dem Ende haben sich die deutschen Fans offensichtlich gedacht, dass sie im falschen Film wären, sich diese Truppe komplett unter Wert verkauft und die zurückgelegten Kilometer nicht für die Katz gewesen sein durften. So beschloss man -dem gezeigten Spiel zum Trotze- 20 Minuten lang „Super Deutschland olé“ zu intonieren. „Super Deutschland“ -als hätte Müller gerade nicht ins Leere geflankt, sondern Özil per Hackentrick das 5-0 erzielt. Die Fans stellen das Spiel auf dem Kopf und die Kameras der neutralen Zuschauer reckten sich ihnen staunend entgegen. Was war hier eigentlich los? Antizyklischer Support wie ich ihn liebe.
Irgendwann musste dieser Truppe, die sich doch so grandios durch die letzten Jahre kombiniert hatte, EIN guter Spielzug gelingen. Wir wissen doch, dass ihr super seid. Also weiter „Super Deutschland“. 5, 10, 15 Minuten lang. Und da segelt sie hinein... die Flanke. Wenn man jahrzehntelang zum Fußball geht, hat man manchmal diese Vorahnung, dieses Gefühl, dass es nun passiert. Gomez steigt 20 Meter Luftlinie vor mir zum Kopfball hoch. Die erste Szene an diesem Abend, die in Zeitlupe vor meinem Auge ablief. Man hätte gar nicht mehr hinschauen müssen. Als Gomez hoch steigt weiss man es, dass die Minute gekommen ist, die für unzählige Stunden entlohnt. Man weiss es. Nicht weil es Gomez ist, sondern weil es einfach der Moment ist. Die Erlösung. Und da zappelt das Netz. Wir fallen durch die Reihen. Tor! Sieg!
Noch ein paar gute Konter -doch nun darf gezittert werden. Die zweite Zeitlupenszene naht. Es ist alles vorbei. Es bleibt eine gute Tour, ein Erlebnis -denke ich. Doch nur 1-1. Doch diesmal täuscht mich meine Vorahnung. Irgendwie retten Neuer und Lahm im Verbund! Die Führung steht! Sie bleibt bestehen! Was für eine Erleichterung. Nach dem Spiel waren alle deutschen Fans fix und fertig. Das Spiel war wirklich viel Hölle und etwas Himmel.
Zur Belohnung stapften wir auf unserem kilometerlangen Weg zum Haltepunkt der Fanbusse durch Morast, über unbeleuchtete Straßen, die metertiefe Löcher aufweisen und nur mit dünnen morschen Brettern bedeckt sind. Ein paar Straßenlaternen zu setzen und die Erdlöcher zu schließen, wäre selbstverständlich in 6 Jahren Vorbereitungszeit auf die EM unmöglich gewesen. Für derartige monumentale Bauvorhaben benötigt man Jahrzehnte.

Aber ich will nicht meckern. So und nicht anders muss EM in der Ukraine sein! Ukrainer, ihr wart und seid trotzdem grandios. Aber ich werde trotzdem nicht zurückkehren. Auch nicht zum Finale. Sollten wir es schaffen, warten im Viertelfinale Danzig oder Warschau auf mich.
Die Rückfahrt verging FAST wie im Fluge -dank der tollen Busbesatzung.
Leute, auf in die Ukraine oder zumindest auf nach Polen! Die Karten laufen euch quasi nach. So etwas muss man mal erlebt haben. Bei zukünftigen Turnieren wird es wahrscheinlich wieder viel schwieriger, Karten zu ergattern. Und irgendwie ist das alte Deutschland, welches Titel abräumte, wieder da. Flanke, Kopfball Tor. Nicht schön, aber gnadenlos effektiv und recht defensivstark kamen mir unsere Jungs auch vor. Beste Voraussetzungen für den Titelgewinn.
