16.05.1998. Wir waren in unserem Cabrio bis nach Berlin gebrettert, an meiner Seite saß die schönste Frau der Welt, der MSV, der es bis ins Pokalfinale geschafft hat. Das Faltverdeck hatte ich unten, selbstverständlich, heute wird schließlich gerockt.
Mein Vater war einige Tage vorher von der Arbeit gekommen und hatte sich süffisant lächelnd am Küchentisch auf seinen Stammplatz gesetzt. Wenn mein Vater mehr als drei Minuten durchgrinst, kommt meistens der hellste Irrsinn. Er sieht dann aus wie ein kleiner Junge, der sich immer noch über seinen gelungenen Streich freut, und man kann ihm deutlich ansehen, wie schwer es ihm fällt, endlich mit der Sprache herauszurücken.
Ich bemerkte es erst gar nicht. Ich ging zum Kühlschrank, schmierte mir ein Brot und fragte mich, warum sich mein Vater eigentlich so sehr amüsierte. Er sagte nichts, ich dachte nichts. Und dann griff er in seine Tasche, legte zwei Karten auf den Tisch und griff nach meinem Arm.
Als ich mich umdrehte, sah ich einem 5-jährigen ins Gesicht. Die Augen glänzten hinter den dicken Brillengläsern, seine noch wenigen fusseligen Haare lagen wild auf dem Kopf. Mit einer Handbewegung richtete er unruhig die letzte ihm gebliebene Strähne. Er deutete mit der Hand auf den Tisch.
Und dann nahm ich sie in die Hand und las, was auf den Karten stand. Für etwas mehr als zwei Minuten fühlte sich Frau Hartmann abermals an den Sommer 43 erinnert.
In das altehrwürdige Wedau-Stadion gingen etwas mehr als 30 000 Menschen. Wenn es richtig gut lief, konnten 10-15 000 von ihnen einen halbwegs ordentlichen Rambazamba anrichten. Dazwischen lagen eine Tartanbahn, widrigste Windbedingungen und die ewige Weite alter Sportstätten, wo die Tribünen weit auseinander liegen, Enge erst gar nicht aufkommen kann und Stimmung einen echten Kraftakt darstellt.
Ich kenne die genauen Zahlen nicht. Wenn ich es schätzen muss, dann haben sich damals 30 000 Zebras auf den Weg nach Berlin gemacht. Im Halbfinale hatten sie in einem denkwürdigen Elfmeterschießen mit Ach und Krach bei Eintracht Trier gewonnen. Michael Zeyer konnte tief in der Nacht nicht mehr hinsehen und drehte sich während der Entscheidung zu den Duisburger Fans um. Der Sozialpädagoge erzählt bis heute von der Rückfahrt dieses Abends, einer Busfahrt, die spätestens mit Abfahrt in Trier nur noch aus einer Bande volltrunkener Derivate bestand, die kotzend und grölend durch den Bus fielen angesichts der Tatsache, dass der MSV es gerade doch tatsächlich ins Pokalfinale geschafft hatte.
Und dann war es soweit, Gegner an diesem Tag natürlich die Bayern. Einige Wochen vorher hatten wir ihnen die Meisterschaft versaut. Lautern gewann seine Partie, die Bayern machten in Duisburg nahezu nichts und die Meisterschaft ging in die Pfalz.
Der Tag war irreal. Mein Vater und ich liefen den Kuhdamm entlang, vollkommen übermüdet und sahen den Menschen dabei zu, wie sie in den Kneipen auf den Tischen herumtanzten. Duisburger waren über die ganze Stadt verteilt, eroberten die Bierstände auf den öffentlichen Plätzen und fielen in die Kaschemmen ein. Pokalfinalflair, Volksfeststimmung und das Wissen: Hier geht es um was. Und die Duisburger mittendrin. Absurd.
Was während der 90 Minuten um mich herum geschah, ist heute noch eine meiner liebsten Erinnerungen an diesen Verein. Ich habe noch nie gesehen, wie mehr als 30 000 Menschen gemeinsam ihre Liebe zu diesem Club ausdrückten und dann stimmten sie es zum ersten Mal an: „Steht auf, wenn ihr…“, und sie standen. Ich konnte es nicht fassen. Das war sie also, die graue Maus. Und mitgebracht hatte sie 30 000 durchgeknallte Ruhrpottler auf dem Weg in bessere Zeiten.
In der ersten Halbzeit Pass in den Lauf von Salou, der Motor von jetzt auf gleich im hohen Drehzahlbereich. Baschi ging ab wie Schmidts Katze, definitiv, 85kg reine Muskelkraft, ein Kampfhund, soviel stand fest. Und der Togolese ließ Lothar, den Rekordnationalspieler wie einen Schuljungen aussehen. Schritt, Schritt, Schritt, schnelle, große, weite Schritte gegen die Matthäus überhaupt keine Chance hat. Und dann zieht er ab, flach, schnell und hart, und Oliver Kahn kann dem Ball nur noch hinterher sehen.
In der Halbzeit renne ich vor dem Stadion hin und her. 1 zu 0 zur Halbzeit gegen die Bayern, die Duisburger das bessere Team, schneller, lauffreudiger, mit voller Leidenschaft unterwegs. War es soweit? Konnte das alles wahr sein?
Der Körper im Ausnahmezustand, der Pokalsieg, so nahe. Die ersten Bayern beglückwünschen uns. Gingen an uns vorbei und sagten, dass wir einfach das bessere Team sind. Ich nahm keinen einzigen Glückwunsch entgegen. Ich kannte diesen Verein und ein 1 zu 0 bedeutete selbst in der letzten Minute eines Spiels noch überhaupt nichts. Die Bayern sollten es Jahre später am eigenen Leib erfahren, besten Gruß von United.
Die Jungs flippten aus, auf und neben dem Platz. Meine Augen fuhren nur noch wild zwischen Zuschauern und der weiß-blauen Wand hin und her. Unter der Anzeigetafel sprangen zehn Leute auf und stimmten: „Auf geht’s, Zebras, schießt ein Tor…“ an, ganz leise und mit nur wenigen Menschen. Dann zog sich der Gesang wie eine Welle durch diese riesige Kurve, schwappte auf die Tribüne und riss das halbe Stadion mit.
Famos, während sich auf dem Feld die pure Abwehrschlacht entwickelte. Die Bayern fingen an, Druck zu machen und belagerten den Duisburger Strafraum. Der MSV tanzte immer mehr auf des Messers Schneide, die Kräfte ließen nach und die Bayern entwickelten langsam aber sicher ihre Klasse. Ab jetzt ging es nur noch ums Durchhalten.
Die Szene, die einem jeden MSV-Fan in die Seele gefahren ist, spielte sich kurz nach der 70.Minute ab. Michael ******, ehemaliger Duisburger, wusste sich nicht mehr anders zu helfen und trat Bachirou Salou an diesem Samstagabend in aller Professionalität vom Spielfeld herunter. Es war glatt Rot, jeder hatte es gesehen, das Stadion raunte. Dies musste doch die Entscheidung sein, ******, der alte Duisburger würde des Feldes verwiesen und der Weg wäre frei. Und dann zog Schiedsrichter Strampe die gelbe Karte aus seiner Tasche, während Bachirou Salou froh sein konnte, dass ihm bei dieser Grätsche keines seiner Beine rausgerissen wurde.
Es ist bis heute die schlimmste Fehlentscheidung, die ich als Fan des MSV Duisburg live miterleben durfte, und es ist bis heute die Fehlentscheidung. Der MSV stand nur noch hinten drin, jetzt fehlte ihnen auch noch ihr torsicherer und pfeilschneller Konterstürmer, der umgehend nach ******s Attacke ausgewechselt werden musste. Markus Babbel schoss das 1 zu 1, die Bayern ließen nicht locker.
„Wir müssen uns irgendwie in die Verlängerung retten“, schrie ich und zerrte an meinem Vater herum, der nur noch aufgewühlt und mit wirrem Resthaar an meiner Seite herumstand.
Und dann passierte es: 89.Minute, Freistoß Basler. Ein total verunglücktes Ding aus etwas mehr als fünfundzwanzig Metern. Flach in die Mitte des Strafraums geschossen, direkt auf die Verteidiger, die nur noch den Fuß hinhalten mussten, um das Ding quer durchs Stadion zu prügeln.
Es hielt aber niemand den Fuß hin. Der Ball flog am ersten Verteidiger vorbei, zwischen zwei weiteren durch und niemand erklärte sich bereit, Verantwortung zu übernehmen. Jeder hatte noch mindestens einen hinter sich stehen, der es klären konnte, also keine Gefahr, für niemanden in diesem Strafraum. Und dann hatte Thomas Gill, damals Torhüter des MSV niemanden mehr hinter sich, der noch irgendwas klären konnte. Der Ball schlug neben ihm ein. Für einen kurzen Moment hatten alle geschlafen.
Mit dem Abpfiff heulte ich los. Heulte und heulte und heulte. Konnte nicht mehr. Sie hatten uns belogen und betrogen, sie hatten uns den Titel geklaut. Diesen einzigen, diesen ersten Titel. Mit Bayer Uerdingen hatte der liebe Gott ein Einsehen gehabt, uns ließ er links liegen.
Mein Vater streichelte mir über die Schulter, als ich traurig, den Kopf in den Händen vergraben auf meinem Platz saß. Auf dem Feld waren nur noch resignierte Gesichter. Sie hatten es nach großem Kampf noch aus der Hand gegeben, eine Halbzeit lang machten sie mit den Bayern, was sie wollten. Hirsch und Wolters, Zeyer und Töfting, Spies und Salou. Der Pokal war vorbei, wir standen mit leeren Händen da, vor uns die selbstgerechten Bayern ihren radebrechenden Trainer feiernd, als hätten sie mit dem Pokalsieg auch noch die Meisterschaft eingefahren.
Und als ich da heulte, fertig mit der Welt und den Nerven, weil man mir im letzten Moment den Schatz aus der Hand gerissen hatte, kam Michael Zeyer auf Socken langsam in die Kurve gelaufen. Es war ein trauriges Bild, wie er dort mit gesenktem Kopf, das Paar Schuhe in seiner Hand auf uns zukam.
Ich sah mich um. Wie mir ging es allen anderen. Männer weinten sich die Seele aus dem Leib, manche fluchten dem Schiedsrichter entgegen. Aber als diese heulende, trauernde Masse von Menschen entdeckte, wer dort gerade auf sie mit müde in die Höhe gereckten Armen zuging, erhoben sich zig tausend Menschen, um einem von denen zu applaudieren, die sich dort unten lange 90 Minuten grade gemacht hatten. Es folgte ein Applaus, den ich selbst von glorreichen Siegen nicht kannte. Ein Applaus, der zu schätzen wusste, wie diese Elf sich hier und heute präsentiert hatte. Chapeau, Jungs. Auch im nachhinein noch.