@cueball123
Gerade der Vergleich mit Flugzeugen hinkt gewaltig. Hier gab es nämlich eine ganze Menge Tote, und es gibt aktive Organisationen, die sich ganz eindeutig dahingehend äussern, dass sie noch viel mehr Leute umbringen wollen, wenn sie eine Gelegenheit erhalten.
Kein Mensch hat was dagegen, dass reagiert wird, sofern tatsächlich etwas passiert. Eine solche Sachlage war im Fussball auch schon gegeben (Stichwort Katastrophe von Heysel 1985). Danach wurde die Stadionsicherheit ganz umfassend überdacht und grundlegend reformiert. Den grössten Teil des finanziellen Aufwandes hierfür hatten allerdings die Vereine alleine zu tragen, da sich die Kommunen aus der Unterhaltung von Sportstätten für die Vereine, die ihre Namen einem grösseren Publikum immer wieder ins Gedächtnis rufen (was gäbe es sonst zum Beispiel über Dortmund zu berichten??) so gut wie vollständig zurückgezogen haben.
Mittlerweile ist der Stadionbesuch zum Fussballgucken mit das sicherste, was an Veranstaltungen dieser Grössenordnung möglich ist. Dafür hast du hier im Thread zur Überprüfung genügend Verlinkungen zu offiziellen Statistiken, die auch von denen, die trotzdem das Fass Stadionsicherheit aufgemacht haben, nicht bestritten werden. Den Fan muss doch interessieren, wie das sein kann! Es gibt einen Grundsatz, dass alle, soweit irgend möglich, in der Demokratie Anspruch auf Gleichbehandlung haben.
Egal, ob man die Kirmes nimmt, den Weihnachtsmarkt oder das Rockkonzert: wo sehr viele unterwegs sind, spinnen einige rum. Es gibt versehentlich Verletzte, Hyperventilierende oder besoffene Ausklinker. Die genannten Veranstaltungen sind aber statistisch gesehen alle unsicherer als ein Besuch im Fussballstadion. Bereits jetzt sind die Kontrollen dort nämlich erheblich schärfer als bei allen anderen vergleichbaren Grossveranstaltungen.
Die Diskussion um die Bengalos ist ein gutes Beispiel (ich stehe dem Thema neutral gegenüber und kann persönlich sogar gut drauf verzichten): zunächst gab es ein langes hinundher, im welchem sogar wichtige Funktionäre (Ulli Hoeness) fanden, dass es schön aussieht und Lösungen vorschlugen, um es erhalten zu können (Hoeness stellte sich eine kontrollierte Bengalo-Sonderzone im Stehplatzbereich vor). Dann waren überall Wahlkämpfe und Kostendämpfung, Schuldenbremse sowie kollektives Versagen aller Staatsorgane bei Rechtsterrorismus wurden ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt. Natürlich gab es auch Trotzreaktionen der Fans. Aber niemand ist, jedenfalls meines Wissens, jemals durch brennende Kleidung schwer verletzt worden, was ja immer als grösste Gefahr in dem Zusammenhang genannt wurde. Ultimativ war dann aber Schluss mit der Debatte, es wurde darauf abgestellt, dass Abbrennen von Bengalos eine Straftat ist, und fertig.
Jetzt ist das, was der Hoeness noch vor einem Jahr schön fand, ein krimineller Akt. Egal, wieviele Leute an Silvester wieder Notversorgungspflichtig werden, egal, dass Bengalos frei verkäuflich sind und bleiben. Für mich geht es hier um Fernsehbilder und darum, den Leuten, die ein Stadion von Innen nur aus dem Fernsehen kennen, Handlungskompetenz zu suggerieren.
Schlimm: für die dicken Fische im Teich der Profivereine sind Zusatzkosten für "mehr Sicherheit" leicht aufzubringen. Die Fraktion der Zuschauer, die auf den teuren Sitzen oder in den Logen sind, wird sich des weiteren mit potentiellen Verschärfungen kaum zu befassen haben. Und die teuren Fernsehrechte bleiben uneingeschränkt wertvoll, wenn die stimmungmachenden Fans auf den Status einer Folkloregruppe zurückgedrängt werden, der man zwar nicht über den Weg trauen muss, der man aber mit "harter Hand" hinter den Umzäunungen ihren Platz zugewiesen hat. Da können sie mit ihren ritualisierten Tänzen den betuchten Eventies einen abenteuerlichen Schauder über den Rücken laufen lassen. So stellen sich die Friedrichs und Jägers jedenfalls das "sichere Stadionerlebnis" vor.
Als "kriminell" erlebt werden hier mittels Kameralupe in der Glotze Leute, die mal einen Zaun erklettern, die besagten Abbrenner von Bengalos, sowie durchgeglühte wie der Typ, der in Düsseldorf den Elfmeterpunkt aus dem Rasen geschnitten hat. All das mag man so oder so bewerten, aber es ist doch eindeutig eine andere Dimension wie etwa die Brandstiftung in einem Asylbewerberwohnheim oder das Tottreten eines Obdachlosen durch Neonazis. Es wird aber in die gleiche Schublade gesteckt, indem man den gleichen Handlungsbedarf suggeriert.
Wie gesagt, durch die Zustimmung zum Konzept "sicheres Stadionerlebnis" haben die Vereine in der Ausgangslage zunächst mal zugestanden, dass Handlungsbedarf besteht. Jedes Bengalo in Grossaufnahme in einem Block, jeder Spinner, der sich mal auf den Zaun setzt, jeder leere Plastikbecher, der hinter dem Tor landet, wird geeignet sein, das Sicherheitskonzept in der gesonderten Situation genau unter die Lupe zu nehmen. Die Vereine müssen sich dann vermittels namentlich benannter Verantwortlicher rechtfertigen können. Bei Auswärtsspielen gerät der Fanbeauftragte unter Druck, weil er jetzt, als engagierter Laie, auf einmal mehr oder weniger undurchschaubar in das Sicherheitskonzept eingewoben ist, und vermutlich dann am besten einen Rechtsanwalt als besten Freund oder Familienangehörigen hat.
Ich glaube nicht, dass es möglich ist, bei den Menschenmengen, wie sie jede Woche in die Stadien drängen, Vorfälle, in welchem Sinne auch immer, komplett zu vermeiden. Die Möglichkeit, Verschärfungen einzufordern, wird es also weiterhin geben. Diese möglichen Verschärfungen sind aber in dem Konzept, gerade durch die Allgemeingültigkeit, die für viele ja das Signal zur Entwarnung bedeutete, fest verankert. Gerade deshalb darf der Protest gerade jetzt nicht aufhören. Und er muss friedlich und reflektiert bleiben.