Sehr gutes Endspiel. Beide Mannschaften absolut gleichwertig, sogar mit gleicher Anzahl von "absoluten" Torchancen von jeweils drei Stück, von denen Götze dann die allerletzte doch noch macht. Ein Weltklassetor eines Weltklassespielers, der vielleicht noch ein paar mal mehr hätte spielen können. Für mich ist völlig eingetroffen, was Menotti, die argentinische Trainerlegende im Vorfeld so ungefähr sagte: die Deutschen werden versuchen, diesem Spiel ihren Stempel aufzudrücken, wohingegen die Argentinier nur versuchen werden, es nicht zu verlieren. Gewonnen wird es am Ende nicht aufgrund von Systemfragen, und den schon wieder reichlich überstrapazierten Sekudärtugenden, wie etwa der ungreifbaren "Mentalität". Gewonnen wird sowas durch eine singuläre Aktion, wo einer Glück hat oder unbezwinglich gut agiert.
Für mich waren die Argentinier echt Klasse, wie sie verschoben haben, humorlos alles ausgeputzt, wie sie schnelles Umschalten immer wieder versuchten, ohne jemals den Kopf zu verlieren. Einziges Manko: der Antipode für einen Messi fehlt. Higuain hat nicht mehr die erforderliche Klasse, Aguierro und Lavezzi haben sie vielleicht sowieso nicht, und de Maria fiel aus.
Bei den Deutschen: der Teamplayergedanke, der bis zum Erbrechen rausgehauen wurde, war doch kein höherer Blödsinn. Khedira konnte nahtlos durch Kramer ausgetauscht werden, als der dann auch runter musste, machte es halt Toni Kross. Das Spiel nach vorn dennoch bei weiten nicht mehr so einfallsreich wie das, was man als Löw-Fussball kennen und nur teilweise lieben lernte.
Löw für mich ein Trainer, den man nach der WM ganz neu bewerten muss: warum auch nicht? An diejenigen, die meinen, dass jetzt den Kritikern von vorher das Maul gestopft wäre: mitnichten! Ich bleibe bei allem, was ich zu kritisieren hatte. Und stelle diesbzüglich die These auf, dass es Löw gelungen ist (bestimmt nicht deswegen, weil ich das geschrieben hatte, sondern deshalb, weil es einfach stimmte) seine Ausrichtung seit 2012 nochmals komplett zu modifizieren: er ist von einem artifiziellen Taktiktafelkünstler hin zu einem ausgebufften Praktiker mutiert, bei dem vor allem die Wechsel in den letzten drei Spielen funkioniert haben. Und er hat eigene Fehleinschätzungen, welche fast das Aus im Achtelfinale bedeutet haben, wie den Einzel-Sechser Lahm und den viel zu langsamen Abwehrchef Mertesacker, nachhaltig korrigiert.
Es ist völlig gleich, ob die Initiative von ihm kam, oder, wie das Einüben von Standards als grundwirksames Mittel, um die nötigen Buden zu machen, offenbar aus dem Kreis der Mannschaft: einzig und allein entscheidend für die möglich gewordene Neubewertung des Bundestrainers ist, dass er diese Veränderungen aktiv integriert hat, dass ihm gelungen ist, die Mannschaft über das Turnier hin zur Reife zu führen, dass prinzipielle Schwächen, wie das im Achtelfinale noch naive Abwehrverhalten, vollständig abgestellt wurden. Und dass er an bestimmten Dogmen, wie Offensivfussball um jeden Preis, offenbar ebensowenig haftet wie sein Nachbar Louis van Gaal.
Für mich eine Quintessenz des Finales und auch des gesammten Turniers: der Fussball ist wieder flexibler geworden, es braucht in einer Weltklassetruppe verschiedene Typen, ein System, das rasch und wirksam wechselnden Verhältnissen angepasst werden kann, und es braucht eine gewisse Geschlossenheit und den Willen einzelner Akteure, sich dem grossen Ganzen notfalls unterzuordnen, auch wenn es schwer fällt. Alle herausragenden Deutschen haben diese Flexibilität repräsentiert: wider erwarten Benedikt Höwedes, in überragender Manier Mats Hummels, fast schon selbstverständlich Manuel Neuer. Und mit spielerischer Leichtigkeit und jugendlicher Unbekümmertheit der grosse kleine Held des gestrigen Abends: Mario Götze, der Junge, der uns die WM geschossen hat. Assistiert vom Anfangs völlig übermotivierten, aber niemals nachlassendem Schürrle.
Ich glaube, dass ein Schlüssel zu vielem hierbei darin zu finden ist, wie cool die Spieler nach dem Gewinn des Pottes waren: nie sind sie in das hysterische Pathos abgedriftet, mit welchem leider Tom Bartels meinte, dieses Finale durchgängig begleiten zu müssen. Bezeichnend dafür Neuer, der uns mit seinem langen Verzögern einfach im Spiel hielt, sich tatsächlich grossartig zu fühlen schien, nur eine einzige Szene hatte, wo er den Überblick verlor. Klarer Fall, dass der auch einen Schuss wie den von Götze gehalten haben würde. Gleiches gilt für Schweinsteiger: der hält Position, weiss zwar um die Bedeutung des Augenblickes, aber lässt sich davon nicht die sachliche Einschätzung trüben. Kroos, dessen Präzision auch unter Druck nicht nachlässt, höchstens zunimmt. Hummels, der sich ganz in den Dienst der Mannschaft stellte, ebenso wie Boateng. Wenn einige in einer Truppe diese Souveränität entfalten können, so überträgt sich das irgendwann auf die übrigen, und das bedeutet dann die von Lothar Matthäus vielbeschworene "Reife der Spielanlage".
Darein muss dann etwas gebettet werden, was neue Impulse schafft: anscheinend kann das sowohl der eingewechselte Stossstürmer sein, als auch im anderen Fall die eingewechselte falsche Neun in Gestalt von Mario Götze. Damit umzugehen, dies bedeutet eine Qualität, welche Löw bis dato öfters abging, welche er aber auch selbst bislang als verzichtbar einstufte, "outete" er sich in entsprechenden Mitteilungen stets eher als einer, der von vorneherein auf eine Geplantheit setzt, welche das Resultat dann fast nur noch als eine Zwangsläufigkeit erscheinen lässt.
Löw hat den Pott geholt. Er hat das im Stil der Altvorderen getan. Seit Sechsundneunzig hat keine unserer Nationalmannschaften mehr so mit "deutschen" Tugenden geglänzt wie die aktuelle Weltmeistertruppe. Und daran ist gar nichts verkehrt, denn die, die zum Beispiel Neunzig den Pott holten, waren wahrscheinlich ne Ecke besser, als sie in der Rückschau rüberkommen. So verbinden sich zum Schluss Tradition und Moderne, ist der Reformator und Wegbereiter des Neuen, Joachim Löw, unversehens zu einem Klassiker mutiert. Ich gönne ihm das, er repräsentiert die grosse Tradition der deutschen Weltmeistertrainer in Bestbesetzung, wenn er sich in solch guter Form zeigt, wie er es bei diesem Turnier gewesen ist.
Und was uns betrifft, sind wir jetzt in dünner Luft unterwegs: Italien hat es vier Mal gemacht, Brasilien schon fünf Mal. Und wir, wobei wir die meisten Endspiele erreichten, die meisten dritten Plätze, und auch die meisten Halbfinals, jetzt ebenfalls vier Mal. Eine grossartige Tradition, die genau zum richtigen Zeitpunkt fortgesetzt worden ist, um den Neuen jetzt einen bruchlosen Anschluss im Bezug auf die EM zu ermöglichen.
Natürlich muss Löw nun weitermachen, keine Frage. Und das Geschichtsbuch sollte aufgeklappt bleiben, denn die EM gehört, logisch gesehen, irgendwie mit der WM zusammen.