Ich würde gar nicht so viel Taktik in die erste Hälfte rein interpretieren. Das war schon ganz viel "Gegner per Flachpass anlocken"-langer Ball-zweiter Ball. Das aber in Perfektion umgesetzt.
Die Mannschaft hat mittlerweile ein unfassbar gutes Gespür dafür, wann sie das Spiel beruhigt oder beschleunigt, wann sie zirkuliert und wann sie vertikal attackiert, wann sie vorwärts verteidigt oder sich fallen lässt und nur Räume blockiert, wer die Tiefe für das Attackieren des anderen absichert, wann sie ein Foul zieht oder man laufen lassen kann, wann Heldenfußball probiert wird oder die vernünftige Lösung sinnvoller ist.
Ich würde das einen kollektiv einheitlichen Spielinstinkt nennen.
Ich habe gestern zur Halbzeit zu
@Pawel geschrieben, dass die Schwächen der Mannschaft zwar zu sehen sind, aber kaum Relevanz für das Spiel haben.
Das lag natürlich auch Ulm, die kaum Lösungen fanden. 5-3-2 fand ich jetzt gegen den Ball auch eher mittelgut geeignet als Antwort auf die Stärken des MSV. Klar, die Tiefe und die Gefahr Sussek haben sie damit kontrolliert bekommen, aber dafür in der Breite kaum Druck auf unseren Aufbau. Wir konnten immer wieder über die AVs oder Braune auflösen und dann wieder etwas zirkulieren, Druck anlocken, kam der Druck, wurde vertikal lang drüber in die jetzt offeneren Räume dahinter gespielt und die Spieler konnten sich in vielen Zweikämpfen um die Bälle kloppen. Das war der Männerfußball von dem Hirsch oft spricht (wobei Frauen sich natürlich genauso um die Bälle streiten können).
Und im Ballbesitz haben die Ulmer zu wenig auf die Kette gekriegt, um
ihr Spiel durchzuzudrücken. Also mussten sie sich fast ständig nach dem MSV richten und sich auch ein wenig an der Nase herumführen lassen (auch in Bezug auf Fouls, Nickligkeiten und Revanche immer nur reagiert).
Martin Rafelt sagte mal so treffend: Die Defensive bestimmt das Spielfeld, die Offensive spielt das Spiel.
Will sagen: Ulm nahm dem MSV in Halbzeit zwar die Tiefe für Sussek, aber dann spielte der MSV halt woanders. Und in Halbzeit 2 war die Defensive des MSV, die das Spielfeld bestimmte. Kette und Doppel-Sechs blieben ausnahmslos tief, die Außen und der Stürmer durften Unterzahl-Konter fahren. Wenn Ulm spielte, war das Motto mit alle Mann hinter den Ball und immer nur den Ballführenden anlaufen.
Ich habe vor dem Spiel zu
@shanghai geschrieben, dass das Spiel eine Standortbestimmung für den MSV ist, weil das erste Spiel glücklich gewonnen wurde und das zweite wegen der roten Karte schwer zu bewerten war. Nach dem Spiel schrieb er mir, dass die Reifeprüfung bestanden wurde. Sehe ich in Bezug auf die erste Hälfte auch so. Die Zweite ist wieder schwer zu bewerten, da Hirsch und Höner in Unterzahl und in Führung liegend klassischen Underdog-Fußball spielen konnten. Und der birgt natürlich immer eine gewisse Abhängigkeit vom Spiel des Gegners (in Halbzeit war es eher umgekehrt).
Beeindruckend dann natürlich der Glaube und die Ausführung des Siegtreffers. Vorbereitung war zwar wieder Marke Brechstange, Töpken dann aber ganz klar in seiner Aktion (ein - im Kopf - "frischer" Stürmer trifft auf müde Verteidiger). Dieser sekündlichen Switch zwischen kämpfenden Hau-Ruck-Fußball und rasiermesserscharfer Coolness gelingt der Mannschaft im Moment in einer beeindruckenden Weise, die ich in der Form auch nicht für möglich gehalten habe.