Ein Turnier, wie es sicher noch keins gegeben hat. Zeit für ein kleines Resümee.
Der legendäre Austragungsort: Brasilien als Land kollektiver Sehnsüchte, der enormen Gegensätze, mehr ein Kontinent denn ein Land: vieles davon klang an, das meiste blieb leider im Rahmen der Fernsehberichterstattung ganz an der Oberfläche. Wieso war Brasilien mal ein Zufluchtsort für Dissidenten aus Osteuropa, wie kam es dann zur Militärdiktatur? Worin bestehen Perspektiven im Hinblick auf extreme soziale Unterschiede, etc.? Über allem der Blick die Copacabana entlang, eine Küstenlandschaft, schön und seltsam wie auf einem fremden Planeten. Sicher keine WM hat jemals mehr mit dem Pfund wuchern können, welches ein Standort bietet, auch dank mittlerweile global hochwertigster Fernsehtechnik. Immerhin, das Land ist vielen massiv und in all seiner Vielschichtigkeit ins Bewusstsein gerückt, sicher ein Effekt, der gar nicht unterschätzen werden kann, auch wenn dieses Statement leider der FIFA ein bisschen recht zu geben scheint. Beigetragen zum Gesamtbild haben aber auch die Proteste, die effektiv verhinderten, dass man 'einfach so' noch glatte Fröhlichkeit und Lebensfreude übermitteln konnte.
Der Fussball: mehr davon und spannenderen gab es niemals. Wurde in Südafrika noch der endgültige Sieg des Systemfussballs postuliert, dominierten äusserst defensive Ausrichtungen ferner das ganze Turnier, war jetzt alles da, alles mit allem gemischt, und wurde vor allem Gas gegeben, als sei in dem segnenden Christus über Rio der Teufel persönlich versteckt. Vor allem in der Gruppenphase reihte sich Sensation an Sensation, es fielen massig Tore aus allen Lebenslagen, und aus jeder Denkrichtung konnten sich Mannschafen durchsetzen, während bekannte Turniermannschaften gnadenlos durch Fussballzwerge rausgeworfen wurden. Alle Prognosen wurden über den Haufen geworfen, angefangen bezüglich des möglichen Tempos bei der dortigen Hitze. Die Italiener waren nicht listig, die Holländer nicht chaotisch, sondern so diszipliniert wie sonst Nordkorea. Dafür spielten die Deutschen langsam und kamen beinahe nur über Standards nach vorn, eine Taktik, die man zuvor als glücklicherweise ausgestorben belächelt haben würde. Mannschaften, deren System nur darin bestand, den Ball möglichst zügig über einen Solokünstler nach vorn zu bringen, kamen ziemlich weit, aber auch welche, die ganz auf den etablierten Systemfussi setzten, ihn sogar nochmal, wie Holland, auf die Spitze trieben. Zwei Dinge blieben aber doch so, wie man sie mittlerweile kennt: 1. Die Engländer traten im Stil einer Schülermannschaft auf. 2. Die grossartigen afrikanischen Fussballer wurden offenkundig von korrupten Funkionärscliquen ihrer Nationen grösstenteils verheizt und blieben deshalb erneut mehrere Klassen unter ihrem eigentlichen Niveau.
Fussball erwies sich insgesamt einmal mehr, dies ist sicher ein positives Resümee, als unvorhersagbar, alle Versuche, ihn zu systematisieren, haben nur zeitlich begrenzt einen gewissen Wert. Und, auch hier hat diese WM an sich einer 'FIFA-Linie' in die Hände gespielt: die sogenannten "Kleinen" haben die Nützlichkeit ihrer Teilnahme unter Beweis gestellt. Eigentlich gab es keine Mannschaften, die hier tatsächlich 'unterklassig' gewesen wären.
Konzepte, welche es geschickten Trainern ermöglichen, individuell fehlende Klasse durch einen hervorragenden Trainingsstand der Akteure auszugleichen (hohes Gegenpressing) liessen manchmal die Etablierten rückständig wirken, und nicht diese "Kleinen". Die Vernetzung tut wohl ein übriges, und heute ist es kein Problem mehr für einen Spieler aus Costa Rica, diese Bühne offensiv für die eigenen Zwecke zu nutzen, während dem er zugleich seinem winzigen Heimatland einen ungeahnten Höhenflug verschafft.
Schiedsrichter: naja, ist wohl jedes Mal dasselbe: einen wie Urs Meier wird es niemals wieder geben. Und was als lustige Frozzelei zwischen ihm und Klopp als Pausenfüller beim Sommermärchen begann, ist inzwischen zu einem regelrechten Tribunal entartet: während im internationalen europäischen Vereinsfussball genau der gleiche Mist verpfiffen wird, soll es hier dran liegen, dass der Referee mal ein Afrikaner, mal ein Japaner ist. Wie jedes Mal wird erst später dann thematisiert, dass es an sich bestimmte Auslegungsvorgaben der FIFA gibt, die für einen Schiri nunmal verbindlich sind. Dass es trotzdem von Fehlentscheidungen wimmelte, liegt in der Natur der Sache.
Der komische Spray war hinterher geläufig, aber es sieht schon albern aus, wie der Unparteiische damit seine Linien zieht. Auch wenn es geholfen haben mag: sollte man lassen, fertig. Und die berühmte Torlinientechnik hat in all ihrer Pracht nur eine einzige gelinde umstrittene Entscheidung zu begleiten gehabt, sonst nervte die Einblendung dessen, was jeder schon mitgekriegt hatte, lediglich. Gestritten wurde natürlich dennoch, weil das Spiel halt so ungeheuer vielschichtig ist. Und damit es das auch bleibt, soll man den ganzen Kram, der sonstens diskutiert wird, etwa den Videobeweis, gleich mit der Torlinientechnik wieder in die Tonne kloppen. Meine Meinung, jedenfalls.
Bleibt noch das Fernsehen, über welches es die allermeisten sich ja reingezogen haben: grandiose Bilder, heutzutage. Nur beim Eröffnungsspiel kam Bela Rethy mit einer Tonqualität wie Mexiko 70. Für Romantiker fast schade, dass es dann besser wurde. Grossartige Nahaufnahmen in Superzeitlupe kennen wir jetzt schon seit einigen Turnieren, trotzdem gewöhnt man sich nicht richtig dran, dass die Livebilder so nachbearbeitet und redigiert werden, dass sie wie Seifenoper aussehen. Auch die asynchrone Wiederholung von Sequenzen, die längst vorbei waren, nervte. Dafür wurde das Publikum sehr grossartig eingefangen: Leute aller Art, von schüchtern bis total abgedreht, Freaks und Schönheiten, auch dickbäuchige Fangruppen und nette Päärchen. Hatte man bei der EM noch das Gefühl, es seien Kameraleute beim Gesichterscan für die Softpornoherstellung unterwegs, wurde hier wohl ein echter und angemessener Spass draus gemacht, den Menschen ihre fünfzehn Sekunden für Jubelgrüsse nach Hause zu geben.
Reporter und Kommentatoren des öffentlich-rechtlichen Fernsehens hinterliessen hingegen einen zwiespätligen Eindruck: zum Glück konnte man Delling und KMH leicht umgehen. Die beiden sahen aus wie bemühte Eltern, welche die AG Film und Medien ersatzweise am Leben zu halten versuchen, während die saumseligen Blagen am Strand ne Runde chillen. Sachlicher Gehalt ihrer Duschungelcampinterviews: genauso Null wie der boulevardeskse Gehalt. Typen wie Lutz Pfannenstil, der beim Indianer Maden probiert, muss es wohl jedesmal geben, damit auch alle Redakteure einen Nachweis für die teuren Tickets und Hotelbuchungen führen können. Verschenkt, aber dahingehend sollte man wenigstens mal versuchen, lustiger zu sein, wenn man die Kohle schon raushaut. Carolin Kebekus beim Indianer hätte vielleicht doch was mehr gefetzt.
Die Dachterasse mit Blick auf die ganze Copacabana bei wechselnden Wettern und Tageszeiten war ein Geniestreich. Da hätten auch Ernie und Bert als An- und Abmoderation nicht weiter gestört. Jedoch: ZDF mit den zwei dicken Ollis setzte eine grossartige selbstironische Marke: die langweiligen Kurzarmhemden, die steife Körperhaltung, die dahinplätschernden Flachwitzchen: Klasse-Comedy! Dabei konnte man sogar zuhören: die beiden Jungs sehr fachkundig, besonders Kahn zeigte, dass er viel mehr drauf hat, als es dauernd auf 'Druck' und 'Tunnel' herauslaufen zu lassen. Welke setzte ihn hochprofessionell ein. Da konnte die ARD nicht mithalten: Opdenhövel ist zwar witzig, hat aber nur begrenzte Ahnung. Und Scholl war eine reine Katastrophe: statt Fachkunde verfriemeltes Insider-Getue eines offenkundig Ahnungslosen. Unerträglich, wie er andeutete, um dann nichts mehr dazu zu sagen, weil das wohl besser ist. So reicht es nicht mal mehr, um im Dschungelcamp die Frühphase zu überstehen. Diese Fernsehkarriere sollte bald gnädig im ZDF-Fernsehgarten auslaufen, oder höchstens bei 'Wissen macht A'.
Krass unterwegs zum Teil die Kommentatoren, welche die Spiele 'Live' begleiteten: Schmidt, Gottlob und Bartels nicht mal auf einem Niveau, das noch für Sport eins ausreicht. Nervtötend: das beständige Fällen feststehender Urteile, wo es nicht nur unnötig, sondern sogar unsportlich ist. Der Kommentator muss ja gar nicht wissen, ob es Foul war oder nicht, sondern er soll dem Zuschauer eine Entscheidungsbeihilfe verschaffen. Vor allem sollte er nicht noch eine halbe Stunde auf einem schon abgegessenen Knochen herumnagen. Gruselig, wenn man sich entspannt vor der Glotze hinsetzt, und dann über die Tonspur so ein Oberlehrer reinkommt. Wie man es gut macht, zeigte Bela Rethy, der diesmal seine Neigung zum Dozieren im Griff behielt: viel Information, Sachkunde, präzise Vorbereitung. Auch Poschmann gefiel: seine Scherze sind Geschmackssache, aber manchmal ist er echt witzig, vor allem ist er aber stets ausgesprochen fair und verzichtet völlig auf Botschaften aller Art. Bemüht war Simon, aber passageweise nicht verstehbar, ausserdem anscheinend viel zu nervös, um einen Überblick zu behalten.
Was noch? Skandal: die Sache mit dem Biss natürlich, das idiotischste Ding seit dem Zidane-Kopfstoss. Und der Zusammenbruch Brasiliens im Halbfinale: Dinge, die zeigten, dass eigentlich übermenschlicher Druck auf allen Akteuren lastet. Sollte man drüber nachdenken, sicherlich auch im Hinblick auf manche eigene Erwartung. Genauso wie über die Tatsache, dass der Spieler, der Neymar ins Krankenhaus brachte, jetzt Polizeischutz benötigt.
Alles in allem: der reine Wahnsinn, aber mittlerweile sehnt man sich nach Ruhe und Frieden, und einer Zeit ohne Fussball. Noch zwei Begegnungen, hoffentlich der kurze Autokorso mit Hupkonzert, dann erst mal abschalten.